„Ich glaube an Gott!" – Oft staune ich, wie leicht mir dieses Bekenntnis über die Lippen geht. Ich glaube an Gott: Was bekenne und sage ich damit aber aus? Ich glaube – was bedeutet das für mein tägliches Leben?
Unsere Bibel ist voller Geschichten von Menschen, die bekennen: Ich glaube an Gott, und die Gottes Verheißungen trauen. Diese Geschichten erzählen aber auch, dass es nicht immer leicht ist, den Glauben zu leben, an diesem Glauben festzuhalten. Davon erzählt unsere Lesung, die wir im Buch Genesis im 22. Kapitel lesen:
Gen 22 (neue Luther-Übersetzung 2017):
1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. 3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt. 14 Und Abraham nannte die Stätte »DerHERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt. 15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, 17 will ich dich segnen und deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; 18 und durch deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. 19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.
Wort Gottes
Schlimm genug, wenn Eltern ihre Kinder verlieren durch Unfall, Krankheit und Krieg, wie es unsere Eltern und ich als Kind erleben mussten. Und jetzt lese ich öfter, eigentlich unvorstellbar, wie Kinder durch die Hand ihrer Eltern um ihr Leben gebracht werden.
Viele Christen finden diese Geschichte unerträglich, sogar – so habe ich es gelesen – wollen einige Theologen sie „auf den Sondermüll der Predigtgeschichte entsorgen“.
Die Geschichte hat schon viel Ärgernis hervorgerufen. Ich denke andie Zeit, die gar nicht so weit zurückliegt, als man Sturm gegen das Alte Testament lief.
‚Was ist das für ein Vater, der aus Gehorsam zu seinem Gott bereit ist, seinen einzigen Sohn zu opfern?‘. Heutzutage landete jemand, der behauptet, so etwas um Gottes Willen getan zu haben, ganz schnell in der Psychiatrie.
Gott Gott sein lassen – nichts anderes heißt: ich glaube.
Entspricht das dem Bild, das sich heute Menschen von Gott machen? Wie fremd kann Gott einem Menschen begegnen. Oder: Ist das Gottesbild, das unser Denken beherrscht, nicht das Bild eines harmlosen Gottes? Das Bild des Gottes, der bisweilen ernst blickt, aber eben nur blickt, der mit sich reden lässt, den man so ernst nimmt – wie es passt. Seine vornehmste Aufgabe – die uns zumindest gefällt – ist zu vergeben. Unser Bild trägt nichts an sich von der fordernden Heiligkeit, von der unsere Geschichte durchlodert ist!
Das Bild eines selbstverständlich lieben Gottes wird hier zerschlagen; und es heißt auch: Dusollst Dir kein Bild machen. Der Weg zur Erkenntnis Gottes soll und muss sich weiten. Werden wir ihn je fassen können?
In unserer Begrenztheit bleibt Gott für die einen ein willkürlicher Tyrann, der mit uns und der Welt macht, was ihm gerade einfällt. Nicht nur Kant und viele andere kluge Köpfe haben sich Gedanken gemacht, was diese Geschichte soll und warum sie überhaupt in der Bibel steht. Viele sehen z.B. den ursprünglichen Sinn in der Absage an das Kinderopfer, das die kanaanitischen Götter noch verlangt haben. Der Gott Israels aber lehnt Menschenopfer ab. Sie werden durch Tieropfer ersetzt. Das ist eine sehr interessante Perspektive; mir hilft sie aber nicht wirklich weiter.
Nach diesen Ereignissen versuchte Gott Abraham, so beginnt die Lesung. ‚Nach diesen Ereignissen' heißt doch: Das, was hier geschieht, was wir hören, hat eine Vorgeschichte. Abraham hat Erfahrungen mit seinem Gott gemacht. Sie beginnen: Gott fordert Abraham auf, seine Heimat zu verlassen. Er, Gott, ‚werde ihm ein neues Land geben und ihn zu einem großen Volk machen.‘ Allein auf diese Zusage hin macht sich Abraham auf den Weg. Lange Zeit tut sich nichts, so können wir nachlesen. Gott scheint seinen Teil der Abmachung nicht zu erfüllen. Abraham und Sara werden älter und älter, aber der Nachwuchs lässt auf sich warten. Nach menschlichem Ermessen ist mit einer Schwangerschaft nicht mehr zu rechnen. Sicherheitshalber hat Abraham schon einen Sohn mit der Magd Hagar gezeugt. Aber dann erfüllt Gott sein Versprechen doch: Isaak wird geboren und der Verheißung, Abraham werde so viele Nachkommen haben wie Sterne am Himmel, steht nichts mehr im Weg. Abraham hat Erfahrungen mit Gott gemacht; er hat erlebt: Gott hält, was er verspricht. Er macht alles gut. Vertrauen bewährt sich und nun? Scheint Gott sich auf einmal gegen seine eigene Verheißung zu stellen? Wie kann Abraham der Stammvater eines großen Volkes werden, wenn er Isaak opfern soll? Wenn auf einmal seine Zukunft, sein ganzer Lebenssinn auf dem Spiel steht? Wie Abraham sich fühlt – was wir ja heute gerne fragen –, darüber hören und lesen wir nichts. Schweigend geht er mit Isaak und seinen Knechten.
Es ist ernst. Für mich ist es der Grund für die Überlieferung dieser Geschichte, warum sie in der Bibel steht und warum wir sie bedenken sollen und müssen: Sie macht deutlich, was Glauben heißt: Unser Glauben ist kein Spaß, er kann uns auch zu Boden werfen und uns in Zweifel geraten lassen und auch in Verzweiflung stürzen. Es ist nicht einfach, gegen allen Anschein an Gott und seiner Zusage festzuhalten. Und doch nimmt Abraham Gott beim Wort. Luther drückt es auf seine Art aus: Abraham hält Gott für einen ehrlichen Mann. Gott für einen ehrlichen Mann halten – drei Tage ist er unterwegs...
Ich erinnere mich gleich an Überlieferungen in jüngster Zeit: Unsere geschundenen jüdischen Brüder und Schwestern verstehen sich als Abrahams Söhne und Töchter. Mich beeindruckt, rührt und beschämt, was ein Jude im Warschauer Ghetto mitten in seinem Elend an eine Mauer geschrieben hat:
„Ich glaube an die Sonne, auch wenn ich sie nicht sehe!
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre!
Ich glaube an Gerechtigkeit, auch wenn ich nur Ungerechtigkeit sehe!
Ich vertraue auf Gott, auch wenn ich ihn nicht begreife!“
Die Juden in Auschwitz haben verzweifelt geklagt und gebetet, aber ihren Glauben nicht aufgegeben: „Manchmal", so habe ich es auch gelesen, erzählt einer, „diente uns eine ausgehöhlte und mit Margarine gefüllte Kartoffel, mit einem Docht aus Lumpen versehen, als Sabbat-Kerze."
Wie kann Gott das zulassen?, ist eine unserer Standardfragen. So vieleMenschen erleben Gott so als grausam und ungerecht, und es fällt ihnen schwer, an den menschenfreundlichen Gott zu glauben.
Und wenn es bei uns ernst wird? Wenn ein Kind stirbt, auf das die Eltern alle Hoffnung gesetzt haben? Wenn Zukunftsträume zerbrechen? Wie konnte Gott das zulassen? Mancher hat seitdem keine Kirche mehr betreten!
Ein Bekennender, ein Glaubender wird an seine Grenzen geführt. Und er muss sich entscheiden: Vertraue ich Gott auch gegen den Augenschein? Erwarte ich immer noch, dass er alles zu einem guten Ende bringt?
Oder sage ich ihm ab? Und ich gebe meinen Glauben auf.
Abraham hofft: Wenn wir angebetet haben, werden WIR wieder zu euch kommen", sagt er zu den Knechten; seinem Sohn erklärt er: „Gott selbst wird schon für das Schaf zum Brandopfer sorgen".
„Abraham ist der Vater des Glaubens", schreibt Paulus später im Römerbrief. „Er hat geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war".
‚Gott sieht', nennt Abraham den Ort, an dem er dies alles erleben musste. Gott sieht. Er behält mich im Auge. Er lässt mich auf meinen Wegen nicht aus den Augen. Er geht mit. Er ist bei mir. Er kennt den Weg. Ich verstehe nichts, er aber weiß den Weg für mich. Ich verstehe dich nicht, du stehst bei mir und kennst den Weg für mich. Luther meint dazu: ‚Als ginge der Herr einen Augenblick hinaus und ließe dich allein‘, so fühlt sich ein Mensch in einer tiefen Krise. Aber‚ Gott sieht durch's Fenster‘.
Ich glaube an Gott, gleich werden wir es miteinander bekennen. Lassen wir IHN auch Gott sein!?
Er lässt sich nicht in den engen Radius unseres menschlichen Begriffsvermögens zwängen.
Bringen wir solchen Gehorsam aus Glauben auf? Bleibt doch alles voller Wenn und Aber? Muss der Glaube erst mit unserer Vernunft in Einklang gebracht werden? Kann hinter scheinbar Widersinnigem doch heiliger Sinn liegen? – Ich werde Gottes Handeln mit meinen fünf Sinnen nicht begreifen und auch nicht kontrollieren können.
Unser Glaube ist nicht gegen unsere Vernunft. DerGlaube ist aber höher als alle unsere Vernunft.
Gehen wir mit Abraham in das Land Morija! Nach Morija – wo Gott der Herr erscheint.
Amen.
Vertraut ist uns dieser 22. Psalm, und doch erschrecke ich immer wieder: er schildert in eindringlichen Bildern aussichtsloses und abgrundtiefes menschliches Leid. Am Anfang steht die elementare Frage: “Warum?”
Ich habe lange nachgedacht, wie ich über so einen Text reden kann, der ein einziger Hilfeschrei ist. Bedrohung und Gewalt dringen von allen Seiten ein: Wir hören es klagen: „Stiere und Büffel haben mich umringt“(13f), „Hunde haben mich umgeben“ (17). Der Leidende wird ausgelacht: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schüttelnden Kopf“, so sehr, dass er sich selbst verachtet: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch.“ Die Lebenskräfte sind versiegt: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, meine Zunge klebt mir am Gaumen.“(15f) Doch menschliche Hilfe ist nicht in Sicht, im Gegenteil: „Sie aber schauen zu und sehen auf mich herab” (18).
Der 22. Psalm gehört in die Passionszeit. Jesus schrie am Kreuz, bevor er starb: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Seine Leidensgeschichte ist im Psalm vorgezeichnet: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“
Doch nicht nur das abgrundtiefe Leid macht es mir schwer, über diesen Psalm zu sprechen. Es gibt da noch etwas, woran ich immer hängen blieb...
Erst hören wir Klagen wie diese: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen/ und vor den Hörnern der wilden Stiere.“
Doch dann kommt die absolut unerwartete Wende, wie aus heiterem Himmel: „Du hast mich erhört.“
Was ist da passiert?
Ich habe lange gesucht – bis ich eine Schrift der französischen Sozialrevolutionärin und Mystikerin Simone Weil fand1:„Über die Gottesliebe und das Unglück“. Simone Weil sprichtüber die Abgründe menschlichen Leids, aber verharmlost nichts, gehtnicht über schwierige Fragen und Widersprüche hinweg. Zwar erwähnt sie unseren Psalm kein einziges Mal, aber sie gibt mir eine Gebrauchsanweisung zum Verstehen.
Das Unglück bricht aus dem Nichts heraus in das Leben eines Menschen ein. Es stößt ihn aus der Gemeinschaft mit anderen; es wirft ihn in einen Seelenzustand, den er mit niemandem teilen kann. Er kann keinen Sinn in seinem Schicksal entdecken. Die Seele erstarrt und wird empfindungslos.
Er ist einsam und gottverlassen. Und das nicht zum Schein: Gott treibt kein Spiel mit uns, indem er sich versteckt und eigentlich da ist. Für Simone Weil lässt das Unglück „Gott auf eine Zeit abwesend sein, … abwesender als das Licht in einem völlig finsteren Kerkerloch. …Während dieser Abwesenheit gibt es nichts, das man lieben kann.“ In solcher Gottesferne kann nur eines die Seele retten, schreibt Simone Weil, das ist: Dass sie dennoch nicht aufhört zu lieben. Andernfalls wird die Abwesenheit Gottes endgültig.
Unser Psalm gibt Zeugnis davon, wie ein Mensch in seiner Gottverlassenheit an Gott festhält. Wir erleben einen befremdlich erscheinenden Wechsel von verzweifelter Klage und Festklammern an dem abwesenden Gott, fast wie eine Beschwörung.
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
4 Aber du bist heilig,
der du thronst über den Lobgesängen Israels.
7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an,
Du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.
15 Alle meine Gebeine haben sich zertrennt;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.
20 Aber du, HERR, seinicht ferne;
meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Simone Weil schreibt: „Die Seele muss fortfahren, ins Leere hinein zu lieben, oder zumindest lieben zu wollen, sei es auch nur mit dem winzigsten Teil ihrer selbst. … Hört die Seele auf zu lieben, so stürzt sie.“
Dann wird sie vergiftet von der Bosheit und Verachtung derer, die ihr Böses antun. Dann kehrt der Unglückliche den Hass und die Verachtung der anderen gegen sich selbst. „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch.“ Damit gibter sich auf und das Unglück kann sich auf Dauer einnisten.
Dochunser Psalmbeter hält an seiner Gottesliebe fest. Und so kommtvöllig unvermittelt die Wende wie das plötzliche Erwachen aus einemschrecklichen Alptraum:
„Du hast mich erhört!“
Was ist geschehen?
SimoneWeil spricht von der Fähigkeit der Seele, ins Leere hinein zulieben. Hält sie an Gott fest wie der Beter unseres Psalms, „naht sich Gott eines Tages selbst und zeigt sich ihr.“
Diese Kraft der menschlichen Seele ist ein Wunder. Es ist möglich, weil Gott uns so erschaffen hat, dass wir der Liebe fähig sind. Gott lässt sich im allergrößten Unglück finden. Aus Liebe zu den Menschen hat Jesus Christus die Tiefen des Unglücks durchschritten
Unser Psalm beantwortet nicht die Frage vom Anfang: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Aber er zeigt uns einen Weg, eine Richtung: Der Mensch kann entscheiden, ob er dieser Richtung folgt oder nicht. Ober den abwesenden Gott anruft: Hier bin ich! Du bist es doch, der mich ins Leben gerufen hat! Sieh her!
Wer nicht nachgibt, wird erhört.
Worauf wir uns verlassen können, das sind die Worte dieses Psalms. Sie geben vom Leid sprachlos Gewordenen eine Sprache. Sie richten unseren Blick auf Gott, auch wenn er abwesend ist. Sie erinnern uns an die guten Erfahrungen im Leben, als wir mit Gott und der Welt eins waren. Sie schenken uns Sätze der Dankbarkeit. Der 22. Psalm leiht uns seine Worte und erhält uns damit am Leben. Amen.
1 Simone Weil: Die Gottesliebe und das Unglück (in Auszügen), in: Leszek Kołakowski (Hg.): Der nahe und der ferne Gott. Nichttheologische Texte zur Gottesfrage im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 306-310.
8 Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: 9 Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen 10 und mit allem lebendigen Getier bei euch, an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren auf Erden bei euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist, was für Tiere es sind auf Erden. 11 Und ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch ausgerottet werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe.
12 Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: 13 Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. 14 Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. 15 Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe.
Liebe Gemeinde,
Bei einer der ersten Friedensdekaden inder DDR, 1983 stand die Geschichte von der Sintflut und vom Bund Gottes mit Noah im Zentrum der Andachten. Als junge Vikarin in Wittenberg fragte ich damals nach dem Schicksal der Menschen, die in den Fluten ertranken. Benutzte Gott sie, um ein Exempel zu statuieren? Sie konnten doch nicht alle schuldig sein, auch wenn wir schon hier, in den ersten Seiten der Bibel, erfahren (8,21b): „Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Augustinus wird es die Dunkelheit des Herzens nennen1. War es nicht ungerecht, dass allein Noah mit den Seinen und einem Paar jeder Tierart verschont blieb?
Erinnern wir uns: Als Gott die Bosheit der Menschen sah, bereute er sein Schöpfungswerk. Und so ließ er die Chaoskräfte wieder frei, die er im Anfang gebändigt hatte. Die Sintflut war nicht einfach nur ein Dauerregen. Die Menschen stellten sich damals die Erde mit dem festen Himmelsgewölbe darüber als eine geschlossene Oase vor, geschützt vor dem Chaos drumherum, dem Tohu wa Bohu, Irrsal und Wirrsal. Jetzt aber öffnet Gott die Schleusen des Himmelsgewölbes und die „Schächte“ der Erde, das Chaoswasser bricht von oben und von unten ein und droht, die geschaffene Welt in ihren Anfangszustand zurückzuversetzen. Als Gott aber dann das Elend der Menschen sah, erinnert er sich an die kleine Schar der Überlebenden in der Arche und entdeckte seine Liebe zu den Menschen.
In einer alten jüdischen Legende heißt es: „Als Gott die Leiden seiner Kinder sieht, vergießt er zwei Tränen, die in den Ozean tropfen, beim Fallen machten sie einen solchen Lärm, dass man es von einem Ende der Welt zum anderen hört.“2 Aus solcher Liebe heraus beschließt Gott: „Ich will die Erde nicht noch einmal verfluchen um des Menschen willen; obwohl das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf. Ich will nicht noch einmal alles zerschlagen, was lebt, wie ich es getan habe. Solange die Erde besteht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So schließt Gott seinen Bund mit Noah auf ewig.
Aber können wir das heute noch glauben? 1755, nach einer der größten Naturkatastrophen der Geschichte, beginnen viele Menschen daran zu zweifeln, dass Gott gnädig ist und ein gottgefälliges Leben – wie das des Noah – vor Strafe bewahrt. Beim Erdbeben von Lissabon sterben am Allerheiligentag an die hunderttausend Menschen. Der Tod traf viele im Gottesdienst, sie wurden unter einstürzenden und brennenden Kirchengebäuden begraben.
Wo bist Du, Gott? Diese Frage hat die Menschen bis heute nicht losgelassen.
Im jüdischen und im christlichen Glauben ringen Menschen um Antwort.
Schauen wir zurück zum Regenbogen:
Gott setzt ihn in die Wolken, um die Menschen und um sich selbst an seinen Bund zu erinnern. Der Bogen, der dazu diente, tödliche Pfeile abzuschießen (im Hebräischen ist es wie im Deutschen dasselbe Wort), das Kriegssymbol wird zum Friedenssymbol. Die Pfeile des Zornesgottes kommen ab sofort nicht mehr zum Einsatz. „Wenn der Bogen in den Wolken steht, will ich meines Bundes mit der Welt und den Menschen gedenken“, sagt Gott.
Jeder Regenbogen hat etwas Tröstliches. Bestimmt fallen Ihnen schöne Geschichten dazu ein.
Gott hat seine Liebe zu den Menschen entdeckt. Seit dem Regenbogen können wir nicht mehr sagen: An all dem Unglück auf Erden, an den Naturkatastrophen und Krankheiten und an dem, was Menschen sich gegenseitig antun, ist Gott schuld.
Unser Fragen nach der Schuld Gottes übersieht, dass zum Bund Gottes mit Noah zwei Seiten gehören, und dass der Bund ein Drittes in Schutz zu nehmen verspricht: Gott und Noah machen sich zu Verbündeten in der Sorge um alles Lebendige auf der Erde und die künftigen Generationen. Wir Menschen sind Bündnispartner Gottes. Das ist eine Ehre und Ausdruck unserer Würde! Aber auch eine Bürde. Unsere Mit-Verantwortung für dieSchöpfung übersehen wir gern. Immer wieder haben Menschen ihren Teil des Vertrags nicht erfüllt, immer wieder ihren Bund mit Gott einseitig zu kündigen versucht.
Gott sei Dank ging das nicht: Weil Gott dem Noah geschworen hatte, sich ewig an sein Wort zu binden, hielt er seinem Wort auch einseitig die Treue. Da konnte der Mensch machen, was er wollte.
Doch ist das Ausmaß der menschlichen Untreue so groß, dass Gott in seiner Liebe den Menschen noch einmal mehr entgegen kam: Er wurde selbst Mensch, um das Leid, und all die faulen Früchte der menschlichen Bosheit mit den Menschen zu teilen – bis zur Hinrichtung am Kreuz.
Am Vorabend seiner Hinrichtung schloss Jesus Christus einen neuen Bund mit uns Menschen, ohne Bedingungen: Brot und Kelch sind die Zeichen dieses Bundes. Sie begründen etwas Neues: Gott kommt zu uns, um unser Leid zu teilen. Er erduldet die menschliche Bosheit bis zum Justizmord. Man hat das ein Paradox genannt, ein Skandalon, ein Ärgernis. Es widerspricht menschlichen Maßstäben des Handelns. Es kann nur geglaubt, nicht verstanden werden. So wie die Auferstehung, die wir Ostern feiern.
Wohl weil es so schwer zu verstehen ist, brachte die Geschichte von der Menschwerdung Gottes das menschliche Fragen nicht zur Ruhe: Wo ist Gott? Wo war er beim Erdbeben in Lissabon, wo war er bei den schrecklichen Katastrophen im 20. Jahrhundert, wo ist er, wenn ein Kind gequält wird, wenn ein alter Mensch völlig isoliert ohne eine menschliche Hand und ein Trostwort im Ohr an Corona stirbt?
Dietrich Bonhoeffer schrieb 1944 im Gestapo-Gefängnis, kurz vor seiner Hinrichtung:
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.3
Ich glaube, auf der Suche nach einer Antwort darauf, wo wir Gott in unserer Welt finden, sollten wir uns diesen Satz als Merkwort in die Tasche stecken: „Christen stehen Gott bei in seinem Leiden.“ Alter und Neuer Bund brauchen uns Menschen, um ihre Kraft zu entfalten.
Der Gott, der uns beisteht und unseren Beistand braucht, ist keinGott, der alles Unglück verhindern kann. Ein Gott, der leidet – so, wie in dieser alten jüdischen Legende – ist kein unnahbarer Gott, der das Geschehen auf der Erde dirigiert wie in einem Puppentheater.
Gott würdigt uns, indem er uns zu Verbündeten in seiner Sorge um die Welt macht.
Vor einigen Tagen wurde mir und einigen anderen ein Wort zur Ermutigung mitgegeben, das möchte ich zum Abschluss lesen. Es ist aus dem gleichen Geist heraus geschrieben worden wie das Gedicht von Bonhoeffer.
Vertrauen in Gott bedeutet, alles zu tun, wozu Gott uns die Kraft und den Verstand gegeben hat, nicht zu verzagen, weil wir handeln müssen, ohne alles berechnen, abschätzen und wissen zu können, und doch das eine zu wissen, dass alles in Gottes Händen liegt. Hoffen auf Gott bedeutet nicht der naive Optimismus, der auf der Illusion basiert, es werde schon alles wieder gut.
Hoffnung bedeutet vielmehr, sich der schwierigsten Aufgabe zu stellen:
In mir den Blick wachhalten, dass alles, was geschieht, in der Tiefe einen Sinn hat, weil Gott in jedem Atemzug mir entgegenkommt — und sogar über den letzten Atemzug hinaus.
Gott lieben bedeutet, in allem, was geschieht, sich tragen zu lassen von seiner Liebe. (P. Martin Löwenstein SJ)
Bitte wir Gott um diese drei größten Gaben, die wir ohne ihn nicht erringen können, um Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Amen.
1 Augustinus, Conf. IX/1: Gibt es ein Böses, das ich nicht getan, oder wenn ich es nicht getan, so doch geredet, getötet. oder wenn ich es nicht geredet, so doch gewollt habe? Du aber, o Herr, du bist barmherzig, und die Tiefe meines Todes beachtend, schöpftest du mit deiner Rechten und bis auf den Grund meines Herzens die Tiefe des Verderbens aus.
2 Elie Wiesel, Macht Gebete aus meinen Geschichten, Herder 1986, S. 64.
3 Das ganze Gedicht: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/451-menschen-gehen-zu-gott-in-i/
Auf einmal sah ich sie liegen, die kleine Kastanie. Unscheinbar, unauffällig lag sie einfach da. Zwischen vermoderndem Laub, etliche kalte Nächte schon hinter sich. Das konnte ich sehen. Sie lag einfach da, sich selbst überlassen. Vielleicht aber auch mit Gelassenheit. Erwartend, was kommen könnte, oder sollte, müsste? Da kam Ich.
Und ich nahm sie mit, nahm sie auf in meiner warmen Hand, was mir guttat. Wie es ihr dabei ging, blieb ihr stilles Geheimnis.
Und das bewahrte sie, auch nach Tagen noch, als ich sie fast vergessen, schließlich doch auf Watte legte. Ihr zu trinken gab. Und Zeit.
Nur das Licht beugte sich über sie. Und hin und wieder ein scheuer Blick von mir.
Stille Hoffnung, mehr nicht.
Aber dann, ein blasses Beinchen erst, oder Ärmchen, es streckte sich aus, lautlos, wehrlos. Endlich meinem Blick begegnend. Ihr großes Geheimnis zeigend. Nun darf ich ahnen, was aus aller Unscheinbarkeit aufscheint.
Ist dieses Werden nicht wie das, was auch in mir/ in uns sich unscheinbar verborgen, lauernd zurückhält, bis, …, ja bis wann eigentlich?
Bis Gottes Liebe wehrlos, hilflos sich aus mir streckt. Wie das Wurzelchen der Kastanie?
Madeleine Delbrêl schreibt:
„Wird sie, diese Liebe, die uns bewohnt, die in uns aufbricht, uns nicht umwandeln?“
Und sie betet: „Herr, Herr, lass wenigstens diese Kruste, die mich bedeckt, kein Hindernis für dich sein. Geh durch. Meine Augen, meine Hände, mein Mund sind dein.
Aschermittwoch: Lassen wir alle Unscheinbarkeit der kommenden Tage zu, das Geheimnis hütend darf es wachsen, trotz kalter Nächte hinter uns, vor uns? Bis sein Licht den zarten Schrei erwartet: Es ist, es wird vollbracht.
Martin Möslein
In dieser Fastenzeit laden wie Sie und euch wieder ein, unseren Video-Impulsen zu folgen:
Und hier kommt gleich das erste Video: Die Legende vom Vierten König - nach Edzard Scharper, gekürzt und gelesen von Fabian Sieber:
1.) Welches Geschenk würden Sie / würdest Du mit auf den Weg zur Krippe nehmen?
2.) Sterne sind im Dunkeln am besten zu sehen. Wann haben Sie / hast Du in Deinem Leben zuletzt einen Stern gebraucht - und gefunden?
3.) Der vierte König macht sich auf die Suche nach einem neugeborenen Kind und findet den Gekreuzigten. Manchmal ist Gott überraschend anders, als wir ihn erwarten und wünschen. Wurde Ihre / Deine Vorstellung von Gott schon einmal auf die Probe gestellt?
(nach: Edzard Schaper, Der Vierte König. Ein Roman; gekürzt und gelesen von Fabian Sieber)
An Weihnachten verkündete ein Engel den Hirten auf dem Feld die Geburt des Messias. Die Heiligen drei Könige kamen zu spät um seine Botschaft zu hören. Sie folgten dem Stern und gelangten über diesen Um-Weg zur Krippe. Ja, und dann gibt es noch den vierten König. Seine Geschichte wird nicht erzählt; er ist der Geschichte abhanden gekommen; er ist überzählig, und deshalb spricht niemand von ihm und verehrt ihn keiner. Aber wenn man das erzählen will, was bis heute bekannt ist, dann müsste die Geschichte wohl so lauten:
Als das Jesuskind in Bethlehem geboren werden sollte, erschien der Stern, der seine Geburt anzeigt, nicht nur den weisen Königen im Morgenlande, sondern auch einem König im weiten Russland. Es war kein großer, mächtiger Herr oder besonders reich oder ausnehmend klug und den Künsten der Magie ergeben. Er war ein kleiner König mit rechtschaffenem Sinn und einem guten, kindlichen Herzen, menschenfreundlich, sehr gutmütig, gesellig und einem Spaß durchaus nicht abgeneigt. Dass einmal ein Stern am Himmel erscheinen und die Herabkunft des Allherrschers über das ganze Erdreich ankündigen würde, und dass der Königsspross, der dann in Russland herrschte, aufbrechen und dem größeren Herrn als Gefolgsmann huldigen müsste, dass wusste unser kleiner König von allen seinen Vätern und Vorvätern her. Die hatten diese Verheißung durch viele Geschlechter bewahrt und jedem ihrer Nachfolger weitergegeben.
Er hatte eine Riesenfreude, der kleine König in Russland, dass der Stern, der das größte Ereignis der Welt ankündigte, gerade zu der Zeit am Himmel erschien, in der er, noch jung an Jahren, am Regieren war. Und so beschloss er, sogleich aufzubrechen. Großes Gefolge wollte er nicht mitnehmen, das lag ihm nicht, und nicht einmal einen von seinen treuesten Knechten, denn es war nichts darüber bekannt, wo der größte Herrscher geboren werden und wie weit seine Reise ihn führen würde. Er wollte sich allein auf die Suche machen. Also ließ er sich sein Lieblingspferd Wanka satteln – keinen Streithengst oder dergleichen, sondern nur so ein kleines, unverwüstliches russisches Pferchen: zottig und mit einer Stirnlocke, dass die Augen kaum den Weg erkennen konnten, auf dem sein Herr es lenkte, aber ausdauernd und genügsam, wie man es für eine weite Reise braucht. „Aber halt!“, dachte da der kleine König, „mit leeren Händen geht man nicht huldigen, zumal es nicht nur einem hohen, sondern dem höchsten Herrn gilt“.
„Die Reiche dieser Welt“, dachte er bei sich, „beurteilt ein weiser Mann stets nach der Tugend und dem Fleiß ihrer Frauen“. Also nahm er etliche Rollen vom schönsten, zartesten Linnen mit, das die Frauen seines Landes aus dem dort gewachsenen Flachs gewebt hatten.
Dies war die Gabe, die der kleine König mitnahm. Und nachdem er den Seinen alles gut anvertraut und ihnen gesagt hatte, wie sie's mit allem halten sollten, bis er wiedergekommen war, ritt er eines Nachts auf Wanka davon, denn da leuchtete der Stern ja am hellsten.
Zwei, drei Monde lang war er schon unterwegs, da hatte er eines Nachts, als der Stern besonders prächtig am Himmel wanderte, eine ganz seltsame Begegnung. Das erste was, was er im Dunkel erkannte, dünkte ihm wandernde Hügel zu sein. Beim Näherkommen dann gewahrte er, dass es eine vornehme Reisegesellschaft sein musste, welche es der Kühle wegen vorzog, bei Nacht unterwegs zu sein, oder welche dem Stern eben so viel Beachtung schenkte wie er selbst. Nur ritten die Herren und ihr großes Gefolge nicht Pferde, sondern Kamele, die wie in Filzstiefeln einher schlurften.
Und was ihn wandernde Hügel gedünkt hatten, waren die höckerigen Rücken der schwer bepackten Kamele.
Als der flinke Trab des russischen Pferchens die Gesellschaft eingeholt hatte fragte er die drei Herren, woher sie kämen und wohin sie wollten, und diese nannten ihm Reiche im Osten, aus denen sie einmal aufgebrochen waren, von denen unser kleiner König noch nie erzählen gehört hatte. Ihr Ziel aber – ihr Ziel war sein eigenes Ziel: der Ort, über welchem der Stern stillstand! Dort, sagten sie, sei ihnen offenbart worden, werde ein Kind geboren werden, das der größte König, der weiseste Prophet und der höchste Priester aller Zeiten und Zonen war. Und diesem Kind müssten sie huldigen und es anbeten. Der kleine König kam aus dem Staunen nicht heraus und wie sie erzählten verging die Nacht, der Stern verblasste und die Sonne ging auf.
Der kleine König sah an seinem staubigen, verschlissenen Reitrock hinunter und schämte sich, und die drei großmächtigen Herren aus dem Osten schienen ihm mit ihrem gemessenen Schweigen zu bedeuten: für einen, der im Dunkeln ein so großes Wort geführt, sähe er im Hellen gar zu klein aus.
Als sie zu einer Herberge gelangten, in der die drei sich durch einen Vorreiter angesagt hatten und wo alles für ihren Empfang gerüstet war, ließ der kleine König sich gar nicht darauf ein, die missliche Rolle eines Überzähligen zu spielen.
Wie er es gewohnt war, nahm er Platz in der Scheuer und legte sich neben seinem Pferdchen Wanka zum Schlaf nieder.
Er schlief und träumte prächtig, aber als er aufwachte, geschah es von einem Stöhnen, in welchem aller Welt Jammer laut zu werden schien. Verwundert rieb er sich den Kopf, weil er doch allein zu sein meinte, da ward er gewahr, dass nach ihm sich noch jemand eingeschlichen hatte. Es war ein junges Bettelweib, das hier untergekrochen war, um seine schwere Stunde unter einem schützenden Dach zu erwarten, und während er gemächlich geschlafen, hatte sie einem Mädchen das Leben geschenkt.
Niemand war da, der Mutter und Kind hätte beistehen können, als er allein. Gewohnt war der kleine König die Arbeit nicht, die jetzt auf ihn wartete, aber aus gutem Herzen meinte er, sich nicht versagen zu dürfen. Er holte der jungen Mutter aus der Herberge etwas zu essen und zu trinken, und weil sie in den letzten Tagen nichts von den Leuten bekommen hatte, füllte er auch ihren Beutel mit ein paar Goldstücken aus seinem ledernen Säcklein auf. Nur das Kindlein hatte es noch ganz erbärmlich. … Mit gerunzelter Stirn betrachtete der kleine König immer wieder dessen elende Blöße. - „Ach, du armer Schreck!“ sagte er schließlich, „welcher Liederjahn auch dein Vater gewesen ist, der dir nicht mehr als die dünne Haut auf diese Welt mitgegeben hat – so lasse ich dich nicht!“ Und er ging hin, packte seine Satteltasche auf, entnahm ihr die Rollen heimatlichen Linnen und trennte ein halbes Dutzend der schönsten Windeln, volles, breites Maß davon ab.
Als er für alles Notwendige gesorgt hat, dass Mutter und Kind unbesorgt der kommenden Nacht entgegensehen konnte, war es schon Abend geworden. Der kleine König sattelte sein Pferdchen und nahm von der Bettlerin Abschied. „In meinem Land,“, sagte er zu ihr, „solltest Du es besser haben.“ und er erzählte ihr vom traulichen Russland, in dem alle Bettler der Barmherzigkeit sicher sein konnten, ohne zu sagen, wer er dort war. „In meinem Land,“ entgegnete ihm die Bettlerin mit schwacher Stimme, „solltest du der König sein. Aber ich gelte ja gar nichts, und deshalb kann ich dich nur zum König über mein Herz machen. Das aber tue ich sicher, von dieser Stunde an.“
„Sieh an“, sagte sich der kleine König glücklich, „vom Gold und vom Linnen für den großen Allherscher habe ich freilich einiges weggegeben, aber dafür habe ich jetzt auch in der Fremde mein eigenes Land, und vielleicht ist solch ein Herzens-Land nicht das Schlechteste. Wenn nur der große König mir verzeiht ...“
Als er sein Pferd auf den Hof der Herberge führte, lag der weit und verlassen da. Die Karawane der drei großmächtigen Fremden, sagten die Leute, sei beim ersten Sternen-Strahl davongezogen. Da wiegte der kleine König nachdenklich den Kopf. Zum ersten Mal auf der ganzen Reise schlich sich ein Bangen in sein Herz ein, und ein dunkles Gefühl, dass er gefehlt oder etwas versäumt haben könnte. Aber dann fasste er sich, legte den Leuten noch einmal die Bettlerin mit ihrem Kinde ans Herz und ritt davon.
Er ritt und ritt. Er ritt diese Nacht und die folgende und alle Nächte, die noch kamen. Längst hatte er alle Lieder der Heimat gesungen, die er in seinem Gedächtnis bewahrte und sich selbst und Wanka des Nachts zur Ermunterung vorsang. Und es kam die Nacht, da kniete er neben Wanka, seinem Pferdchen, das krank war und nicht aufstehen wollte. „Wer“, sagte der kleine König und sah dem Pferchen in die Augen, in deren unergründlichem Blick schon blaue Schleier dahin zu wehen schienen, „wer wird mich zu meinem Stern bringen und wer wird mich zurücktragen in die teure Heimat, wenn nicht du, Freund?“
Doch da war Wanka schon tot.
Als dem kleinen König das aufgegangen war, saß er noch viele Stunden neben dem vierbeinigen Freund und spielte mit dem Zotteldickicht der Mähne und wartete auf den Stern.
Der Stern kam in der ersten Nachtstunde nicht und nicht in der zweiten, nicht in der dritten und nicht in der vierten, der König mochte sich die Augen ausstarren, so viel er wollte.
„Was hat das alles genutzt?“ dachte er verbittert, „Hungrige zu speisen, Nackte zu kleiden, alles zu verstreuen und dabei nur die Tränen des eigenen Unglücks zu säen. König zu werden über das Herz eines Bettelweibes, haha! Darauf habe ich mir einmal etwas eingebildet, ich Narr! Jetzt komme ich trotz allem zu spät und komme ich zurecht, dann bin ich ein Bettler, den man nicht vorlässt.“
Von der zweiten Nacht an, in welcher der Stern nicht mehr leuchtete, wurde der kleine König aus Russland eine Art Landstreicher.
Er ging und ging, ging tagsüber und nachts, ging mal mit Hoffnung im Herzen und mal mit Trotz und Verzweiflung oder mit Kummer, aber er hatte kein rechtes Ziel mehr. Weder in seiner Seele, noch vor Augen. Und so verstrickte er sich in das Unglück und die Händel der Welt, die ihn hier ärger dünkte als ein König sie je zu bessern vermöchte – und sei es der größte König aller Zeiten und Zonen.
Eines Morgens war der kleine König ans Meer gekommen, in eine fremdartig schöne Hafenstadt, und hatte vom Morgengauen an drunten am Wasser gesessen und zugeschaut, wie die Morgenröte sich gleich Perlmutt in den Wellen brach. Ach!
Dann war er Zeuge eines wilden Auftritts geworden. Eine Galeere, die im Hafen lag, war zur Abfahrt bereit; nur fehlte ein Mann.
Der Mann an den Riemen, der fehlte, war tot. Er war ein säumiger Schuldner des Schiffsherren gewesen und jener hatte ihn durch das Gericht dazu verurteilen lassen, auf einem seiner Schiffe zu dienen, bis er mit der Kraft seiner Arme die Schuld abverdient habe. Diese Arme waren nicht stark genug gewesen. Nun aber kamen der Schiffsherr und seine Knechte und führten zwischen sich den halbwüchsigen Sohn des Toten, der in des Vaters Fessel geschmiedet werden sollte und nebenher ging seine noch junge Mutter und flehte den Schiffsherrn um Erbarmen an. Aber als der Schiffsherr an der Hafenbrücke Befehl gab, den Knaben ins Schiff zu bringen und ihn in die Fessel zu legen, sprang der kleine König von seinem Platz abseits hervor und trat unter die Leute. Dann gehe er statt des Knaben, sagte er leise und blickte den Schiffsherrn herausfordernd an.
Das erste, was er hörte, war ein höhnisches Lachen. Dann hatten die Augen des Schiffsherrn ihn eingeschätzt, wie der Metzger ein Stück Vieh betrachtet, das ihm zur Schlachtung geboten wird. - Oho! Traut er sich's zu? Er solle es sich dreimal überlegen, sagte der Schiffsherr. Die Reise sei nicht so bald zu Ende, wolle er die Zeche, die ihm sein Vorgänger eingebrockt bis zum letzten Heller bezahlen.
Nun kam die Zeit im Leben des vierten Königs, von der so schnell erzählt ist, und die zu leben doch so lange, so grausam lange währte, beinahe dreißig Jahre lang. Dreißig Jahre auf der Galeere. Er war arglos gewesen, als er sich für den Knaben der Witwe in die Fessel des Toten hatte schließen lassen und hatte gar nicht nach der Höhe der Schuld gefragt, die der Tote ihm hinterlassen, und wie lange er rudern müsse, um sie ab zu verdienen.
Er wurde dem Toten gleich. Aus den tief eingesunkenen Augen des abgemagerten Gesichts konnte er vor sich hinstarren, ohne dass jemand zu sagen vermocht hätte, ob er überhaupt etwas sah, ja ob er lebte. Sein Blick glich mit jedem Jahr mehr jenem, den er vor langer, langer Zeit eines Morgens in den großen Augen Wankas gesehen und damals nicht zu ertragen vermocht hatte. Unsägliche Reue erfüllte seine Jahre. Er hatte alles vertan, wie er meinte, er hatte sinnlos verschwendet. Gar nicht zu reden davon, dass er nicht des Allherrschers Vasall werden konnte – er war nicht einmal mehr der Krone in der Heimat würdig. Längst hatte sie sich gewiss auch ein anderer aufgesetzt und er war vergessen. Nur wunderte er sich von Jahr zu Jahr mehr, warum die Herrschaft des größten Königs, dem zu huldigen er ausgezogen war, sich gar nicht mit einer Wende zum Besseren in ihrem elenden Leben der Galeere bemerkbar machte.
Als man den kleinen König eines Tages aus dem Dienst entließ, musste man ihn an Land tragen. Er taugte nicht mehr für die Galeerenbank, er taugte nur noch zum Sterben.
Er ging wieder auf die Landstraßen hinaus, auf denen er einst daheim gewesen war, bevor die Galeerenbank sein Platz im Leben geworden war. Sein alter, müder Kopf fasste das Gegenwärtige kaum, die Augen gingen ihm über von allem was er an Merkwürdigem sah und seine Ohren fassten die verwirrende Vielfalt des Lärmens nur, wo er einzelnes, von den Scharen des Volkes fortwährend wiederholt hören konnte.
Das Geschrei der Menge galt einem König. Doch begriff der vierte König noch nicht, was es mit diesem König auf sich hatte und ob die Menge, die durch die Straßen drängte, vielleicht unterwegs war, diesem König zu huldigen oder ob sie sich wieder ihn zum Aufruhr erhob. Was für ein König war das?
„Sie haben den Größten und wollen ihn zum Geringsten machen.“ hörte er mit einem Mal eine Stimme neben sich. Aber als er die Augen auftat, musste er in seiner Verwirrung lange nach dem Menschen suchen, der diese Worte gesprochen hatte, bis er – beinahe zu seinen Füßen – eine alte Bettlerin gewahrte.
Er starte sie an und musste etliche Male von neuem ansetzen, bis er die wenigen Worte über die Lippen bekam: „Was sagst Du? Von wem sprichst Du?“ Sie blickte ihn, wie er meinte, mit einem spöttischen Lächeln an: „Weißt du das nicht, und bist auf allen Straßen in Samaria und Galiläa unterwegs?“ Er schüttelte stumm den Kopf. Sein Herz pochte ihm zum Zerspringen.
„Sie haben einen König, von dem die Heiligen Schriften und die Propheten sagen, dass er der Sohn Gottes selber ist; er hat Kranke geheilt und Tote auferweckt; aber jetzt fordern sie von den Heiden, dass er ans Kreuz geschlagen werde.“
„Woher … Woher weißt Du das?“ fragte der kleine König. Die Alte blickte ihn mit nachsichtiger Geringschätzung an: „Man bekommt nicht nur Almosen;“ sagte sie, „man bekommt auch etwas zu wissen.“
Der kleine König war wie von Sinnen. Ein König. Von dem die Heiligen Schriften und die Propheten verkündet hatten, dass er Gottes Sohn sei und er … „Sag, wie alt ist dieser König“, forschte er die Alte in herrischem Ton aus.
„Der?“ erwiderte sie gleichmütig. „Man sagt, er sei um die Dreißig herum.“ „Dreißig, dreißig“, murmelte er, als sei darin das größte Rätsel der Welt und seines Lebens verborgen. „Dreißig“, sagte er lauter, hob den Kopf und blickte die Alte an, „das .. das war doch damals, als ...“ er vergaß sich völlig und vollendete: „als du in der Scheuer dein Kind bekamst und ich dir die Windeln von meinem Linnen gab?“ Die Alte starrte ihn mit weiten Augen und halboffenem, zahnlosen Mund an, ihre alten, kralligen Hände hatten angefangen zu zittern. Für's erste brachte sie kein Wort über die Lippen, aber es war ganz deutlich: sie hatte ihn erkannt.
Der kleine König hastete davon, ein einziges Mal noch wandte er sich um. … die Gasse hinauf, über Straßen und Plätze und überall – wie er spürte – zu spät, zu spät.
„Den König … Wohin? Wohin?“ fragte er schließlich den Nächstbesten. Der wies ihn eine Richtung an und diese stapfte der kleine König davon. Und je länger er wieder stadtauswärts ging, wie es ihm schien, desto deutlicher merkte er, dass er auf der Spur des richtigen Geschehens war, auf der Spur dessen, den er gesucht hatte und immer weitersuchte. Er war auf der Spur und alles was jetzt nötig war, war Eile. Einmal sah er weinende Frauen. Einmal grau verstörte Männer, aber er hielt sich nicht auf. Der König! Heilige Schriften und Propheten! Der Stern – dem er selbst vor dreißig Jahren nachgezogen war … wie war das möglich? Wie? War das? Möglich? Nein, zu begreifen gab es nichts mehr. Denn als die Häuser zurückgewichen waren und freies Feld sich auftat, sanft ansteigen zu einem Hügel und je weiter, desto mehr von Menschen geleert, die alle auf der untersten Straße stehengeblieben waren und von dort aus gafften, da war dem vierten König nur gewiss, dass er hier zu Füßen des Schindangers der großen Stadt stand und das oben, dort oben, und nirgends sonst auf der Welt … sein König war.