Wann sind Sie das letzte mal ausgerastet?
Oder erinnern Sie sich an Menschen, nahe Menschen und ihre Ausraster?
Ja, es gibt Momente, wo Sie und ich – wo man sich in ein wanderndes Pulverfass verwandelt, und jeden Moment kann es explodieren, da reicht eine Winzigkeit. Das verunsichert, wenn man uns anders kennt.
Wir hier, liebe Schwestern und Brüder, als christliche Gemeinschaft, geht das, ist das christlicher Lebensstil, Leben in seiner Nachfolge, seinen Fußstapfen, immer mal ausrasten? So war doch dieser Jesus nicht, immer gute Laune, immer ein offenes Ohr für seine Mitmenschen, nie wütend. Ein schönes Bild, sicher nicht verkehrt, aber wohl recht unvollständig. In der Bibel wird eben auch von einem anderen Jesus berichtet, wie wir eben im Johannesvangelium hören konnten.
Gehen wir mal eben in die Situation damals, in die Johannes im Jahr 100 für seine Hörer und Leser die Abschiedsreden Jesu stellt. Jesus steht vor seinem Tod, sein Handeln insgesamt aber auch immer wieder mal im Tempel, sein Predigen und Heilen, gegen die Regeln verstoßen, sich als Sohn Gottes verstehen, das Schicksal von Johannes dem Täufer, seinem Vorläufer, lässt ihm keine andere Wahl, als mit dem eigenen Tod zu rechnen.
Der Tempel als religiöses aber auch wirtschaftliches Zentrum Jerusalems war eine hochsensible Größe, die damals auch die Römer nicht antasteten, wohl 70 Jahre später. Jesu grundsätzliche Kritik des Tempels und der Opfer konnte freilich nicht mit Verständnis der jüdischen Behörden rechnen, ja diese Kritik konnte auf keinen Fall geduldet werden.
Eine Bedrohung also, die auch die Jünger wohl bemerkt haben, und die sie sehr verunsichert haben muss. Daher kommt dann auch die Reaktion von Petrus, der Jesus vom Gang in den Tod abhalten will. In diese Verunsicherung der Jünger spricht Johannes die AbschiedsredenJesu, sie sind von Ostern her geprägt. Es ist der auferstandene Gekreuzigte, der hier spricht. So sind also diese Worte letztlich an alle Glaubenden aller Zeiten gerichtet, also auch an uns, heute.
Die Jünger werden durch Jesu Offenheit ermutigt, Jesus spricht freimütig und ohne Angst, ganz offen. Diese Offenheit macht Jesus für die Jünger glaubhaft. Sie lässt sie erkennen, dass ihr Meister alles weiss, auch was in ihnen vorgeht. Und so können sie anerkennen, dass Jesus von der Wahrheit – und damit von Gott – ausgeht. In der Verunsicherung schafft die Klarheit Jesu Vertrauen: „Darum glauben wir, dass Du von Gott ausgegangen bist“.
Aber bei Johannes sind die Botschaften doppelbödig, weil sie auf einen tieferen Sinn hin transparent sind. „Jetzt glaubt ihr?“, ist Jesu Antwort. Die ganze Wahrheit von dem, was er ihnen gesagt hat, ist ihnen noch gar nicht zugänglich, ihr Verstehen bleibt an der Oberfläche und dass das, was ihnen da so durch den Kopf geht, dass das zusammenbrechen könnte, sich in Luft auflösen wird, wenn es mit dem wahren Ernst des Lebens konfrontiert wird.
Doch die Stunde kommt, ja, sie ist gekommen, da ihr zerstreut werdet – jeder dorthin, wo er einmal war – und mich allein lässt.“ Die„Stunde“ meint im Johannesevangelium die Stunde des Todes Jesu. Und sie ist ja so etwas wie der rote Faden des Lebens Jesu. Sein Tod liegt in der Konsequenz seines Lebens.
Und doch bricht Angesichts des Todes Jesu der vermeintliche Glaube der Jünger vollständig zusammen. Jeder schaut nur noch für sich, und dadurch zerstreuen sie sich alle in ihr isoliertes Eigenes hinein. Sie lassen IHN im Stich, der ihren Erwartungen nicht entsprochen hat.
Nur Frauen und der sogenannte Lieblingsjünger harren beim Kreuz aus, bis Jesus stirbt.
Doch Jesus ist nicht allein „denn der Vater ist bei mir“. Und Jesus folgt eben dem Willen dessen, der ihn gesandt hat. Deshalb muss mit Johannes die ergänzende Wahrheit gesagt werden, dass der Vater bei Jesus ist. Diese Gleichzeitigkeit von Verlassenheit einerseits und Verbundenheit mit dem Vater andererseits ist durch den Heiligen Geist möglich, der die beiden füreinander Abwesenden füreinander anwesend macht und damit den Sieg über den Tod ermöglicht, weil die Liebe stärker ist als der Tod.
All das sagt Jesus, damit wir in ihm Frieden haben. Ja, und wie und was bringt uns dieser Friede?
Schauen wir auf den letzten Satz: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Luther z.B. – nutzt auch den Begriff „Angst“. Obgleich es griechisch „Bedrängnis“ und „Leiden“ heisst. Also: In der Welt werden wir bedrängt, wir stehen derart unter Druck, dass wir in die Enge getrieben werden, und darauf reagieren wir mit Angst. In unserem deutschen Wort „Angst“ steckt das Wort „eng“.
Wovor ängstigen wir uns eigentlich? Wir haben Angst vor dem Tod. Wir haben Angst vor Sinnlosigkeit und Angst vor der Schuld, die unsere Person zerstört. Angst vor Einsamkeit, dass unsere Beziehungen zerstört werden, so dass wir am Ende ganz allein dastehen. Diese Angst fasst wohl alle unsere Ängste zusammen. In der Angst, in der Enge, findet ein Mensch nie zu sich selbst und ist im Begriff sich zu verlieren. Und es ist eng, gerade heute, und es macht uns Angst, oder etwa nicht?
Die ganze Welt scheint unter Druck zu stehen. Wir wissen nicht, wie sich die Geschichte mit dem Klima weiter entwickeln wird. Das Corona-Virus breitet sich über die ganze Erde aus. Gleichzeitig toben an verschiedenen Stellen Kriege, wie in Syrien oder im Jemen, die immer neue Flüchtlingsströme erzeugen. Auch die Weltwirtschaft gerät dadurch massiv unter Druck. Es scheint keinen Ort auf unserer Erde zu geben, auf den man sich auf Dauer gefahrlos zurückziehen könnte. Die ganze Welt ist vielfältig exponiert und wir mit ihr. In der Tat, in der Welt haben wir Angst – und mit Grund. Es scheint für die Menschheit und damit auch für uns persönlich immer enger zu werden.
„In der Risikogesellschaft der Moderne werden die Risiken insgesamt nicht kleiner, sondern verändern sich nur. (U.Beck) Angst – im Unterschied zur Furcht – lässt uns realisieren, dass wir die Dinge nicht im Griff haben, sie macht uns hilflos und lähmt, sie macht mutlos, deshalb verdrängen wir sie. Das machen wir ja übrigens mit dem Tod auch so.
Und gerade im Hinblick darauf, unsere Ängste, diese letzte Angst, sagt Jesus: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden, besiegt.“ In seinem Tod hat er in der Verbundenheit mit dem Vater im Geist alle Zerrissenheit der Welt durch seine Verbundenheit mit uns überwunden. Er hat also jeden Menschen, Sie und mich, bis ans Ende geliebt, so dass seine Verbundenheit mit uns niemals aufgehoben werden kann. Toll. Das wärs doch, oder?
Und wie können wir davon etwas mitkriegen, erfahren? Zugänglich wird uns dies ganz real und kraftvoll in der Liebe zu unseren Mitmenschen. Die Gefahr gibt uns die Chance, im gemeinsamen Zusammenstehen neue Kraft und neues Vertrauen zu gewinnen und uns wieder auf das Wesentliche unseres Lebens zu besinnen: Den Frieden finden wir nur in der Verbundenheit mit Gott und unseren Mitgeschöpfen. Alle zusammen, nicht allein! Der Wert von Gemeinschaft mit Respekt und Toleranz, Rücksicht, gerade das ist und wäre in der Corona-Pandemie nicht nur von großer Bedeutung, sondern d e r Weg.
Das fällt wahrhaftig aus dem Raster all dessen, was wir sonst so zuhören und zu sehen bekommen, also dürfen wir durchaus auch aus-rasten, sonst wird’s nichts.
Um es mit Kurt Marti zu sagen:
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten, wo kämen wir hin,
und keiner ginge, um zu sehen,
wohin wir kämen, wenn wir gingen.
Ja, wo kämen wir hin, wenn wir gingen,
wenn wir den Mut aufzubrechen, um Neues zu wagen,
mal anders zu machen oder noch besser:
etwas aus einer anderen Perspektive betrachten.
Das Ziel, das sind die Menschen, die auf der Suche sind nach dem Leben
und vielleicht nach mehr als nur ein bisschen Leben.
Die Botschaft des Evangeliums will die Menschen erreichen,
die das Leben in Fülle suchen,
die den Sinn ihres Lebens suchen und die Gott suchen.
Corona hat uns gelehrt, dass wir auch als Kirche, als Gemeinde
neue Wege gehen müssen und gehen können.
Und wir sind erstaunt, wer diese neuen Wege mitgeht und wer nicht.
Und wir sind erstaunt, wen wir da finden, der mit uns nach Gott sucht.
Und Corona lässt uns auch so manche Not sehen, die vorher unsichtbar war,
weil eine geschäftige Welt, viele Menschen übersehen hat.
Wo kämen wir da hin – vielleicht zu eben jenen Menschen,
die darauf warten, dass jemand ihnen Mut macht, Hoffnung schenkt,
ja, der ihnen Gott schenkt.
Die Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sind systemrelevant,
weil sie Leben schenken.
Und dort wo Kirche sich nicht weg duckt,
sondern hingeht zu den Menschen und offen ist für Menschen,
da ist sie systemrelevant
und das nicht nur in Corona-Zeiten, sondern in jeder Zeit.
(nach Kurt Marti, Peter Frey)
Bruder Jeremias durfte an einem Podcast des Bistums Erfurt für die Fastenzeit 2021 mitwirken. Hier ist der Link zur Bistumsseite:
https://bistum-erfurt.podigee.io/61-essen-und-trinken
„Ich glaube an Gott!" – Oft staune ich, wie leicht mir dieses Bekenntnis über die Lippen geht. Ich glaube an Gott: Was bekenne und sage ich damit aber aus? Ich glaube – was bedeutet das für mein tägliches Leben?
Unsere Bibel ist voller Geschichten von Menschen, die bekennen: Ich glaube an Gott, und die Gottes Verheißungen trauen. Diese Geschichten erzählen aber auch, dass es nicht immer leicht ist, den Glauben zu leben, an diesem Glauben festzuhalten. Davon erzählt unsere Lesung, die wir im Buch Genesis im 22. Kapitel lesen:
Gen 22 (neue Luther-Übersetzung 2017):
1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. 3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. 11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt. 14 Und Abraham nannte die Stätte »DerHERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt. 15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, 17 will ich dich segnen und deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; 18 und durch deine Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. 19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.
Wort Gottes
Schlimm genug, wenn Eltern ihre Kinder verlieren durch Unfall, Krankheit und Krieg, wie es unsere Eltern und ich als Kind erleben mussten. Und jetzt lese ich öfter, eigentlich unvorstellbar, wie Kinder durch die Hand ihrer Eltern um ihr Leben gebracht werden.
Viele Christen finden diese Geschichte unerträglich, sogar – so habe ich es gelesen – wollen einige Theologen sie „auf den Sondermüll der Predigtgeschichte entsorgen“.
Die Geschichte hat schon viel Ärgernis hervorgerufen. Ich denke andie Zeit, die gar nicht so weit zurückliegt, als man Sturm gegen das Alte Testament lief.
‚Was ist das für ein Vater, der aus Gehorsam zu seinem Gott bereit ist, seinen einzigen Sohn zu opfern?‘. Heutzutage landete jemand, der behauptet, so etwas um Gottes Willen getan zu haben, ganz schnell in der Psychiatrie.
Gott Gott sein lassen – nichts anderes heißt: ich glaube.
Entspricht das dem Bild, das sich heute Menschen von Gott machen? Wie fremd kann Gott einem Menschen begegnen. Oder: Ist das Gottesbild, das unser Denken beherrscht, nicht das Bild eines harmlosen Gottes? Das Bild des Gottes, der bisweilen ernst blickt, aber eben nur blickt, der mit sich reden lässt, den man so ernst nimmt – wie es passt. Seine vornehmste Aufgabe – die uns zumindest gefällt – ist zu vergeben. Unser Bild trägt nichts an sich von der fordernden Heiligkeit, von der unsere Geschichte durchlodert ist!
Das Bild eines selbstverständlich lieben Gottes wird hier zerschlagen; und es heißt auch: Dusollst Dir kein Bild machen. Der Weg zur Erkenntnis Gottes soll und muss sich weiten. Werden wir ihn je fassen können?
In unserer Begrenztheit bleibt Gott für die einen ein willkürlicher Tyrann, der mit uns und der Welt macht, was ihm gerade einfällt. Nicht nur Kant und viele andere kluge Köpfe haben sich Gedanken gemacht, was diese Geschichte soll und warum sie überhaupt in der Bibel steht. Viele sehen z.B. den ursprünglichen Sinn in der Absage an das Kinderopfer, das die kanaanitischen Götter noch verlangt haben. Der Gott Israels aber lehnt Menschenopfer ab. Sie werden durch Tieropfer ersetzt. Das ist eine sehr interessante Perspektive; mir hilft sie aber nicht wirklich weiter.
Nach diesen Ereignissen versuchte Gott Abraham, so beginnt die Lesung. ‚Nach diesen Ereignissen' heißt doch: Das, was hier geschieht, was wir hören, hat eine Vorgeschichte. Abraham hat Erfahrungen mit seinem Gott gemacht. Sie beginnen: Gott fordert Abraham auf, seine Heimat zu verlassen. Er, Gott, ‚werde ihm ein neues Land geben und ihn zu einem großen Volk machen.‘ Allein auf diese Zusage hin macht sich Abraham auf den Weg. Lange Zeit tut sich nichts, so können wir nachlesen. Gott scheint seinen Teil der Abmachung nicht zu erfüllen. Abraham und Sara werden älter und älter, aber der Nachwuchs lässt auf sich warten. Nach menschlichem Ermessen ist mit einer Schwangerschaft nicht mehr zu rechnen. Sicherheitshalber hat Abraham schon einen Sohn mit der Magd Hagar gezeugt. Aber dann erfüllt Gott sein Versprechen doch: Isaak wird geboren und der Verheißung, Abraham werde so viele Nachkommen haben wie Sterne am Himmel, steht nichts mehr im Weg. Abraham hat Erfahrungen mit Gott gemacht; er hat erlebt: Gott hält, was er verspricht. Er macht alles gut. Vertrauen bewährt sich und nun? Scheint Gott sich auf einmal gegen seine eigene Verheißung zu stellen? Wie kann Abraham der Stammvater eines großen Volkes werden, wenn er Isaak opfern soll? Wenn auf einmal seine Zukunft, sein ganzer Lebenssinn auf dem Spiel steht? Wie Abraham sich fühlt – was wir ja heute gerne fragen –, darüber hören und lesen wir nichts. Schweigend geht er mit Isaak und seinen Knechten.
Es ist ernst. Für mich ist es der Grund für die Überlieferung dieser Geschichte, warum sie in der Bibel steht und warum wir sie bedenken sollen und müssen: Sie macht deutlich, was Glauben heißt: Unser Glauben ist kein Spaß, er kann uns auch zu Boden werfen und uns in Zweifel geraten lassen und auch in Verzweiflung stürzen. Es ist nicht einfach, gegen allen Anschein an Gott und seiner Zusage festzuhalten. Und doch nimmt Abraham Gott beim Wort. Luther drückt es auf seine Art aus: Abraham hält Gott für einen ehrlichen Mann. Gott für einen ehrlichen Mann halten – drei Tage ist er unterwegs...
Ich erinnere mich gleich an Überlieferungen in jüngster Zeit: Unsere geschundenen jüdischen Brüder und Schwestern verstehen sich als Abrahams Söhne und Töchter. Mich beeindruckt, rührt und beschämt, was ein Jude im Warschauer Ghetto mitten in seinem Elend an eine Mauer geschrieben hat:
„Ich glaube an die Sonne, auch wenn ich sie nicht sehe!
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre!
Ich glaube an Gerechtigkeit, auch wenn ich nur Ungerechtigkeit sehe!
Ich vertraue auf Gott, auch wenn ich ihn nicht begreife!“
Die Juden in Auschwitz haben verzweifelt geklagt und gebetet, aber ihren Glauben nicht aufgegeben: „Manchmal", so habe ich es auch gelesen, erzählt einer, „diente uns eine ausgehöhlte und mit Margarine gefüllte Kartoffel, mit einem Docht aus Lumpen versehen, als Sabbat-Kerze."
Wie kann Gott das zulassen?, ist eine unserer Standardfragen. So vieleMenschen erleben Gott so als grausam und ungerecht, und es fällt ihnen schwer, an den menschenfreundlichen Gott zu glauben.
Und wenn es bei uns ernst wird? Wenn ein Kind stirbt, auf das die Eltern alle Hoffnung gesetzt haben? Wenn Zukunftsträume zerbrechen? Wie konnte Gott das zulassen? Mancher hat seitdem keine Kirche mehr betreten!
Ein Bekennender, ein Glaubender wird an seine Grenzen geführt. Und er muss sich entscheiden: Vertraue ich Gott auch gegen den Augenschein? Erwarte ich immer noch, dass er alles zu einem guten Ende bringt?
Oder sage ich ihm ab? Und ich gebe meinen Glauben auf.
Abraham hofft: Wenn wir angebetet haben, werden WIR wieder zu euch kommen", sagt er zu den Knechten; seinem Sohn erklärt er: „Gott selbst wird schon für das Schaf zum Brandopfer sorgen".
„Abraham ist der Vater des Glaubens", schreibt Paulus später im Römerbrief. „Er hat geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war".
‚Gott sieht', nennt Abraham den Ort, an dem er dies alles erleben musste. Gott sieht. Er behält mich im Auge. Er lässt mich auf meinen Wegen nicht aus den Augen. Er geht mit. Er ist bei mir. Er kennt den Weg. Ich verstehe nichts, er aber weiß den Weg für mich. Ich verstehe dich nicht, du stehst bei mir und kennst den Weg für mich. Luther meint dazu: ‚Als ginge der Herr einen Augenblick hinaus und ließe dich allein‘, so fühlt sich ein Mensch in einer tiefen Krise. Aber‚ Gott sieht durch's Fenster‘.
Ich glaube an Gott, gleich werden wir es miteinander bekennen. Lassen wir IHN auch Gott sein!?
Er lässt sich nicht in den engen Radius unseres menschlichen Begriffsvermögens zwängen.
Bringen wir solchen Gehorsam aus Glauben auf? Bleibt doch alles voller Wenn und Aber? Muss der Glaube erst mit unserer Vernunft in Einklang gebracht werden? Kann hinter scheinbar Widersinnigem doch heiliger Sinn liegen? – Ich werde Gottes Handeln mit meinen fünf Sinnen nicht begreifen und auch nicht kontrollieren können.
Unser Glaube ist nicht gegen unsere Vernunft. DerGlaube ist aber höher als alle unsere Vernunft.
Gehen wir mit Abraham in das Land Morija! Nach Morija – wo Gott der Herr erscheint.
Amen.
Vertraut ist uns dieser 22. Psalm, und doch erschrecke ich immer wieder: er schildert in eindringlichen Bildern aussichtsloses und abgrundtiefes menschliches Leid. Am Anfang steht die elementare Frage: “Warum?”
Ich habe lange nachgedacht, wie ich über so einen Text reden kann, der ein einziger Hilfeschrei ist. Bedrohung und Gewalt dringen von allen Seiten ein: Wir hören es klagen: „Stiere und Büffel haben mich umringt“(13f), „Hunde haben mich umgeben“ (17). Der Leidende wird ausgelacht: „Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schüttelnden Kopf“, so sehr, dass er sich selbst verachtet: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch.“ Die Lebenskräfte sind versiegt: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, meine Zunge klebt mir am Gaumen.“(15f) Doch menschliche Hilfe ist nicht in Sicht, im Gegenteil: „Sie aber schauen zu und sehen auf mich herab” (18).
Der 22. Psalm gehört in die Passionszeit. Jesus schrie am Kreuz, bevor er starb: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Seine Leidensgeschichte ist im Psalm vorgezeichnet: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“
Doch nicht nur das abgrundtiefe Leid macht es mir schwer, über diesen Psalm zu sprechen. Es gibt da noch etwas, woran ich immer hängen blieb...
Erst hören wir Klagen wie diese: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen/ und vor den Hörnern der wilden Stiere.“
Doch dann kommt die absolut unerwartete Wende, wie aus heiterem Himmel: „Du hast mich erhört.“
Was ist da passiert?
Ich habe lange gesucht – bis ich eine Schrift der französischen Sozialrevolutionärin und Mystikerin Simone Weil fand1:„Über die Gottesliebe und das Unglück“. Simone Weil sprichtüber die Abgründe menschlichen Leids, aber verharmlost nichts, gehtnicht über schwierige Fragen und Widersprüche hinweg. Zwar erwähnt sie unseren Psalm kein einziges Mal, aber sie gibt mir eine Gebrauchsanweisung zum Verstehen.
Das Unglück bricht aus dem Nichts heraus in das Leben eines Menschen ein. Es stößt ihn aus der Gemeinschaft mit anderen; es wirft ihn in einen Seelenzustand, den er mit niemandem teilen kann. Er kann keinen Sinn in seinem Schicksal entdecken. Die Seele erstarrt und wird empfindungslos.
Er ist einsam und gottverlassen. Und das nicht zum Schein: Gott treibt kein Spiel mit uns, indem er sich versteckt und eigentlich da ist. Für Simone Weil lässt das Unglück „Gott auf eine Zeit abwesend sein, … abwesender als das Licht in einem völlig finsteren Kerkerloch. …Während dieser Abwesenheit gibt es nichts, das man lieben kann.“ In solcher Gottesferne kann nur eines die Seele retten, schreibt Simone Weil, das ist: Dass sie dennoch nicht aufhört zu lieben. Andernfalls wird die Abwesenheit Gottes endgültig.
Unser Psalm gibt Zeugnis davon, wie ein Mensch in seiner Gottverlassenheit an Gott festhält. Wir erleben einen befremdlich erscheinenden Wechsel von verzweifelter Klage und Festklammern an dem abwesenden Gott, fast wie eine Beschwörung.
2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
4 Aber du bist heilig,
der du thronst über den Lobgesängen Israels.
7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an,
Du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.
15 Alle meine Gebeine haben sich zertrennt;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.
20 Aber du, HERR, seinicht ferne;
meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Simone Weil schreibt: „Die Seele muss fortfahren, ins Leere hinein zu lieben, oder zumindest lieben zu wollen, sei es auch nur mit dem winzigsten Teil ihrer selbst. … Hört die Seele auf zu lieben, so stürzt sie.“
Dann wird sie vergiftet von der Bosheit und Verachtung derer, die ihr Böses antun. Dann kehrt der Unglückliche den Hass und die Verachtung der anderen gegen sich selbst. „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch.“ Damit gibter sich auf und das Unglück kann sich auf Dauer einnisten.
Dochunser Psalmbeter hält an seiner Gottesliebe fest. Und so kommtvöllig unvermittelt die Wende wie das plötzliche Erwachen aus einemschrecklichen Alptraum:
„Du hast mich erhört!“
Was ist geschehen?
SimoneWeil spricht von der Fähigkeit der Seele, ins Leere hinein zulieben. Hält sie an Gott fest wie der Beter unseres Psalms, „naht sich Gott eines Tages selbst und zeigt sich ihr.“
Diese Kraft der menschlichen Seele ist ein Wunder. Es ist möglich, weil Gott uns so erschaffen hat, dass wir der Liebe fähig sind. Gott lässt sich im allergrößten Unglück finden. Aus Liebe zu den Menschen hat Jesus Christus die Tiefen des Unglücks durchschritten
Unser Psalm beantwortet nicht die Frage vom Anfang: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Aber er zeigt uns einen Weg, eine Richtung: Der Mensch kann entscheiden, ob er dieser Richtung folgt oder nicht. Ober den abwesenden Gott anruft: Hier bin ich! Du bist es doch, der mich ins Leben gerufen hat! Sieh her!
Wer nicht nachgibt, wird erhört.
Worauf wir uns verlassen können, das sind die Worte dieses Psalms. Sie geben vom Leid sprachlos Gewordenen eine Sprache. Sie richten unseren Blick auf Gott, auch wenn er abwesend ist. Sie erinnern uns an die guten Erfahrungen im Leben, als wir mit Gott und der Welt eins waren. Sie schenken uns Sätze der Dankbarkeit. Der 22. Psalm leiht uns seine Worte und erhält uns damit am Leben. Amen.
1 Simone Weil: Die Gottesliebe und das Unglück (in Auszügen), in: Leszek Kołakowski (Hg.): Der nahe und der ferne Gott. Nichttheologische Texte zur Gottesfrage im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 306-310.
8 Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: 9 Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen 10 und mit allem lebendigen Getier bei euch, an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren auf Erden bei euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist, was für Tiere es sind auf Erden. 11 Und ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch ausgerottet werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe.
12 Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: 13 Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. 14 Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. 15 Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe.
Liebe Gemeinde,
Bei einer der ersten Friedensdekaden inder DDR, 1983 stand die Geschichte von der Sintflut und vom Bund Gottes mit Noah im Zentrum der Andachten. Als junge Vikarin in Wittenberg fragte ich damals nach dem Schicksal der Menschen, die in den Fluten ertranken. Benutzte Gott sie, um ein Exempel zu statuieren? Sie konnten doch nicht alle schuldig sein, auch wenn wir schon hier, in den ersten Seiten der Bibel, erfahren (8,21b): „Denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Augustinus wird es die Dunkelheit des Herzens nennen1. War es nicht ungerecht, dass allein Noah mit den Seinen und einem Paar jeder Tierart verschont blieb?
Erinnern wir uns: Als Gott die Bosheit der Menschen sah, bereute er sein Schöpfungswerk. Und so ließ er die Chaoskräfte wieder frei, die er im Anfang gebändigt hatte. Die Sintflut war nicht einfach nur ein Dauerregen. Die Menschen stellten sich damals die Erde mit dem festen Himmelsgewölbe darüber als eine geschlossene Oase vor, geschützt vor dem Chaos drumherum, dem Tohu wa Bohu, Irrsal und Wirrsal. Jetzt aber öffnet Gott die Schleusen des Himmelsgewölbes und die „Schächte“ der Erde, das Chaoswasser bricht von oben und von unten ein und droht, die geschaffene Welt in ihren Anfangszustand zurückzuversetzen. Als Gott aber dann das Elend der Menschen sah, erinnert er sich an die kleine Schar der Überlebenden in der Arche und entdeckte seine Liebe zu den Menschen.
In einer alten jüdischen Legende heißt es: „Als Gott die Leiden seiner Kinder sieht, vergießt er zwei Tränen, die in den Ozean tropfen, beim Fallen machten sie einen solchen Lärm, dass man es von einem Ende der Welt zum anderen hört.“2 Aus solcher Liebe heraus beschließt Gott: „Ich will die Erde nicht noch einmal verfluchen um des Menschen willen; obwohl das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf. Ich will nicht noch einmal alles zerschlagen, was lebt, wie ich es getan habe. Solange die Erde besteht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So schließt Gott seinen Bund mit Noah auf ewig.
Aber können wir das heute noch glauben? 1755, nach einer der größten Naturkatastrophen der Geschichte, beginnen viele Menschen daran zu zweifeln, dass Gott gnädig ist und ein gottgefälliges Leben – wie das des Noah – vor Strafe bewahrt. Beim Erdbeben von Lissabon sterben am Allerheiligentag an die hunderttausend Menschen. Der Tod traf viele im Gottesdienst, sie wurden unter einstürzenden und brennenden Kirchengebäuden begraben.
Wo bist Du, Gott? Diese Frage hat die Menschen bis heute nicht losgelassen.
Im jüdischen und im christlichen Glauben ringen Menschen um Antwort.
Schauen wir zurück zum Regenbogen:
Gott setzt ihn in die Wolken, um die Menschen und um sich selbst an seinen Bund zu erinnern. Der Bogen, der dazu diente, tödliche Pfeile abzuschießen (im Hebräischen ist es wie im Deutschen dasselbe Wort), das Kriegssymbol wird zum Friedenssymbol. Die Pfeile des Zornesgottes kommen ab sofort nicht mehr zum Einsatz. „Wenn der Bogen in den Wolken steht, will ich meines Bundes mit der Welt und den Menschen gedenken“, sagt Gott.
Jeder Regenbogen hat etwas Tröstliches. Bestimmt fallen Ihnen schöne Geschichten dazu ein.
Gott hat seine Liebe zu den Menschen entdeckt. Seit dem Regenbogen können wir nicht mehr sagen: An all dem Unglück auf Erden, an den Naturkatastrophen und Krankheiten und an dem, was Menschen sich gegenseitig antun, ist Gott schuld.
Unser Fragen nach der Schuld Gottes übersieht, dass zum Bund Gottes mit Noah zwei Seiten gehören, und dass der Bund ein Drittes in Schutz zu nehmen verspricht: Gott und Noah machen sich zu Verbündeten in der Sorge um alles Lebendige auf der Erde und die künftigen Generationen. Wir Menschen sind Bündnispartner Gottes. Das ist eine Ehre und Ausdruck unserer Würde! Aber auch eine Bürde. Unsere Mit-Verantwortung für dieSchöpfung übersehen wir gern. Immer wieder haben Menschen ihren Teil des Vertrags nicht erfüllt, immer wieder ihren Bund mit Gott einseitig zu kündigen versucht.
Gott sei Dank ging das nicht: Weil Gott dem Noah geschworen hatte, sich ewig an sein Wort zu binden, hielt er seinem Wort auch einseitig die Treue. Da konnte der Mensch machen, was er wollte.
Doch ist das Ausmaß der menschlichen Untreue so groß, dass Gott in seiner Liebe den Menschen noch einmal mehr entgegen kam: Er wurde selbst Mensch, um das Leid, und all die faulen Früchte der menschlichen Bosheit mit den Menschen zu teilen – bis zur Hinrichtung am Kreuz.
Am Vorabend seiner Hinrichtung schloss Jesus Christus einen neuen Bund mit uns Menschen, ohne Bedingungen: Brot und Kelch sind die Zeichen dieses Bundes. Sie begründen etwas Neues: Gott kommt zu uns, um unser Leid zu teilen. Er erduldet die menschliche Bosheit bis zum Justizmord. Man hat das ein Paradox genannt, ein Skandalon, ein Ärgernis. Es widerspricht menschlichen Maßstäben des Handelns. Es kann nur geglaubt, nicht verstanden werden. So wie die Auferstehung, die wir Ostern feiern.
Wohl weil es so schwer zu verstehen ist, brachte die Geschichte von der Menschwerdung Gottes das menschliche Fragen nicht zur Ruhe: Wo ist Gott? Wo war er beim Erdbeben in Lissabon, wo war er bei den schrecklichen Katastrophen im 20. Jahrhundert, wo ist er, wenn ein Kind gequält wird, wenn ein alter Mensch völlig isoliert ohne eine menschliche Hand und ein Trostwort im Ohr an Corona stirbt?
Dietrich Bonhoeffer schrieb 1944 im Gestapo-Gefängnis, kurz vor seiner Hinrichtung:
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.3
Ich glaube, auf der Suche nach einer Antwort darauf, wo wir Gott in unserer Welt finden, sollten wir uns diesen Satz als Merkwort in die Tasche stecken: „Christen stehen Gott bei in seinem Leiden.“ Alter und Neuer Bund brauchen uns Menschen, um ihre Kraft zu entfalten.
Der Gott, der uns beisteht und unseren Beistand braucht, ist keinGott, der alles Unglück verhindern kann. Ein Gott, der leidet – so, wie in dieser alten jüdischen Legende – ist kein unnahbarer Gott, der das Geschehen auf der Erde dirigiert wie in einem Puppentheater.
Gott würdigt uns, indem er uns zu Verbündeten in seiner Sorge um die Welt macht.
Vor einigen Tagen wurde mir und einigen anderen ein Wort zur Ermutigung mitgegeben, das möchte ich zum Abschluss lesen. Es ist aus dem gleichen Geist heraus geschrieben worden wie das Gedicht von Bonhoeffer.
Vertrauen in Gott bedeutet, alles zu tun, wozu Gott uns die Kraft und den Verstand gegeben hat, nicht zu verzagen, weil wir handeln müssen, ohne alles berechnen, abschätzen und wissen zu können, und doch das eine zu wissen, dass alles in Gottes Händen liegt. Hoffen auf Gott bedeutet nicht der naive Optimismus, der auf der Illusion basiert, es werde schon alles wieder gut.
Hoffnung bedeutet vielmehr, sich der schwierigsten Aufgabe zu stellen:
In mir den Blick wachhalten, dass alles, was geschieht, in der Tiefe einen Sinn hat, weil Gott in jedem Atemzug mir entgegenkommt — und sogar über den letzten Atemzug hinaus.
Gott lieben bedeutet, in allem, was geschieht, sich tragen zu lassen von seiner Liebe. (P. Martin Löwenstein SJ)
Bitte wir Gott um diese drei größten Gaben, die wir ohne ihn nicht erringen können, um Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Amen.
1 Augustinus, Conf. IX/1: Gibt es ein Böses, das ich nicht getan, oder wenn ich es nicht getan, so doch geredet, getötet. oder wenn ich es nicht geredet, so doch gewollt habe? Du aber, o Herr, du bist barmherzig, und die Tiefe meines Todes beachtend, schöpftest du mit deiner Rechten und bis auf den Grund meines Herzens die Tiefe des Verderbens aus.
2 Elie Wiesel, Macht Gebete aus meinen Geschichten, Herder 1986, S. 64.
3 Das ganze Gedicht: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/451-menschen-gehen-zu-gott-in-i/