Fest Ordensallerheiligen & Gebetstag um Berufungen im Geiste Augustins
am 12./13.11.2021 in der Brunnenkirche zu Erfurt
Liebe Gemeinde in Erfurt,
ich grüße euch aus dem in dieser Jahreszeit angenehm milden Nordafrika! Bei euch in Thüringen ist es jetzt sicher kühl. Regnet es? Dann seid froh darum. Hier könnten wir mehr Wasser brauchen. Die Wüste frisst sich allmählich nach Norden...
Mehr als die Sonne Afrikas brennt mir unter den Nägeln die Sorge um einen Glauben, der trägt. Das ist der Unterschied zu euch: Alle Afrikaner sind gläubige Menschen. Es wimmelt hier von den verschiedensten Religionen und Sekten! Meine Bischofsstadt ist die große Hafenstadt Hippo Regius! Ihr lacht? Achso: Hippo klingt nach Hippie und „Gammler“. Doch unterschlagt den Beinamen „Regius“ nicht! Der bedeutet „die königliche“!
In der Tat bietet die Großstadt beides: Glanz und Elend, Kultur und Verfall, Glaube und Aberglaube. Unser Hafen ist einer der bedeutendsten Nordafrikas. Für mich ist Hippo die Königin! Als Bischof bin ich auch Streitschlichter und Richter in den alltäglichen Dingen. Alle kommen zu mir und belagern mich, kaum dass die Sonne aufgegangen ist: „Augustinus, hilf mir, der Händler hat mich übers Ohr gehauen!“ – „Meine Frau betrügt mich! Was soll ich nur tun?“ - „Ich kann meine Familie nicht mehr ernähren!“ usw. – Ich kann euch sagen: Manchmal bin ich schon mittags so erschöpft...
Hier also diene ich dem Evangelium! Oft möchte ich einfach meine Ruhe haben – wie damals, als ich nach meiner Bekehrung mit meinen Freunden bei guten Gesprächen ein Leben in Stille und Gebet führen konnte. Damals dachte ich: Jetzt bist du am Ziel! So willst du leben.
Aber Gott hatte noch ganz anderes mit mir vor und riss mich aus dem stillen Kloster. Er fädelte es so ein. Ich war hier in Hippo auf der Durchreise. Natürlich besuchte ich sonntags die Kirche und stellte mich ganz hinten hin. Doch der alte Bischof hatte mich wohl erkannt. So gebrechlich er war: Augen hatte er wie ein Falke! Wie beiläufig schlug er das Thema an, wie dringend er Hilfe brauche. Zu reden mache ihm so viel Mühe. Er sei ja Grieche und sein Latein miserabel. Die Leute von Hippo verdienten wahrlich Besseres.
Damals hatte sich meine neue Art klösterlichen Lebens längst herumgesprochen. Früher hieß Mönchsein, als Einsiedler zu leben. Ich hätte das nie gekonnt – und nicht gewollt! Immer waren Menschen um mich. In allen Phasen meines Lebens war ich umgeben von einem großen Freundeskreis. Es musste doch möglich sein, in Gemeinschaft Gott zu suchen! Mit Freunden gemeinsam auf dem Weg zu Gott sein! Das wurde mein Ideal! Genau so verwirklichte ich es in meinem Elternhaus.
Das sprach auch viele andere an. Männer und Frauen gründeten an ihren eigenen Wohnorten Gemeinschaften. Ich gab ihnen den Rat: Lasst euch ganz aufeinander ein! Aber behandelt nicht alle gleich! Ihr seid ja nicht gleich: Jeder hat andere Bedürfnisse. Habt keine Angst vor Unterschieden. Sie sind euer Schatz! Doch übernehme jeder Verantwortung und prüfe sich selbst, was er wirklich braucht! Beherzigt den Grundsatz: Wenig brauchen ist besser als viel haben! – So steht es in meiner Regel für die Gemeinschaft, die älteste und wohl kürzeste Klosterregel. Es braucht nicht viele Vorschriften. Wichtig ist die Haltung, wie wir sie in der Urgemeinde finden: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Sie hatten alles gemeinsam, und jedem wurde zugeteilt, was er nötig hatte“ (vgl. Apg 2,44f).
Schert auch ihr nicht alle über denselben Kamm! Lasst Luft zwischen euch! Lasst Gottes Geist wehen! Glauben braucht Vielfalt! Gebt einander Raum in euren Gemeinden! Manchmal müsst ihr euch gegenseitig ertragen. Ein jeder von euch stelle das Gemeinsame über das Eigene. Gott schenke es euch!
Viele dieser neuen Klöster unterstütze ich mit meinem Besuch. Eigentlich habe ich nichts Neues erfunden, sondern den Schatz der Schrift neu entdeckt. Als junger Mann war ich lange Zeit enttäuscht von der Schlichtheit der Bibel. Ich hatte immerhin Redekunst studiert, war sogar Professor und hochdotierter Staatsredner! Mir half Bischof Ambrosius von Mailand. Seine Predigten öffneten mir die Tür zur Bibel.
Es ist oft mühsam, die Bibel zuverstehen. Vielleicht kennt ihr das ja. Daher verbündet euch mit denen, die schon mehr Erfahrung haben! Helft einander, das Wort Gottes zu finden, diesen Schatz für unser Leben! Als ich das begriffen hatte, wollte ich nur noch als Christ leben. Auch im Kloster sollst du vor allem Christ sein! Liebe Gott und den Nächsten wie dich selbst – darum geht es für uns alle!
Ach ja: Ich war also damals unterwegs zu den jungen Gemeinschaften. Als der alte Bischof von seiner Not sprach, wurde ich vor die Cathedra geschoben: „Augustinus kann doch Priester werden und dir helfen!“ Ich wusste nicht, wie mir geschah. Tränen kullerten mir aus den Augen. Ich sehnte mich nach der Ruhe meines Klosters ...
Viele redeten auf mich ein. Ich hörte alles nur wie durch einen Schleier. Da war so viel Not bei diesen Menschen. Da war auch so viel Sehnsucht nach Gottes Geist. Da waren einfache und gebildete Menschen vereint in ihrer Suche nach einem Sinn. Selten hatte ich das so deutlich gespürt: Die Menschen sind nicht abgestumpft. In jedem ruft es nach Gott!
Damals begriff ich: Ich wollte meine Ruhe haben, aber Gott braucht mich hier! Heute weiß ich: Schon dreimal rief Gott mich zur Umkehr. Zum ersten Mal, als ich in der Jugend den Glauben meiner Mutter Monika verloren und mich sogar einer großen Sekte angeschlossen hatte. Da stachelte er mich an, das Gute und Wahre zu suchen. Ich las Cicero und wurde Philosoph: Wahrheitssucher. Zum zweiten Mal hat Gott in meinem Innern geblitzt und geleuchtet. Ich war mir selber zum Rätsel geworden, aber Gott hatte mich längst erkannt und gepackt. Er sorgte dafür, dass ich die richtigen Leute traf, vor allem Bischof Ambrosius. Bis ich erkannte: Gott ist die Wahrheit, die ich schon so lange suchte.
Und nun zum Dritten das: Feste Männerfäuste zerren mich vor den Altar und verlangen, dass ich ihr Priester würde. So willige ich ein. Gott gönnt mir offenbar nicht die Abgeschiedenheit des Klosters. Er will, dass ich da bin für andere, für seine Gemeinde, für die Not der Kirche heute.
Bis zum heutigen Tag leben Menschen nach meiner Klosterregel, um als Gemeinschaft sich in den Dienst am Reich Gottes nehmen zu lassen, vor allem in den Städten. – Was ist mit euch? Wollt auch ihr im Bistum Erfurt am Reich Gottes mitarbeiten?
An all das denke ich, wenn ich diesen Brief an euch schreibe. Der Vormittag ist vorbei, und die Menschen, die das Bischofshaus mit ihren Sorgen und Nöten aufgesucht hatten, sind erst mal wieder fort. Morgen werden sie wieder kommen. Aber so sehr ich mich manchmal nach Ruhe sehne: Welch Wunder, dass der HERR mich brauchen kann! Ich werde gewürdigt, als Lasttier des Herrn zu arbeiten. Er packte mir viele Bündel auf: Er schickte mich in die Seelsorge, ich mühe mich um die Ökumene, spreche mit unseren Politikern, kümmere mich um die Caritas, schreibe Briefe, um Lebensfragen zu beantworten, predige und rede mit den Menschen...
Wir suchen die Ruhe und schaffen allenfalls Zerstreuung, die uns wegführt von dem, der unsere eigentliche Sehnsucht ist. Den Wunsch nach Ruhe kann nur ER stillen: Wenn ich einmal ganz bei ihm sein werde. Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, mein Gott!
Diese geistliche Unruhe wünsche ich euch, meine lieben Thüringer, und die Liebe zu den Menschen, für die ihr Zeugen Jesus Christi sein sollt!
Euer Augustinus,
Bischof von Hippo Regius (Afrika).
Predigt in der Messe am 11.11.2021 | Martinstag
in der Brunnenkirche (Erfurt)
von Br. Jeremias Kiesl OSA
In jenen Tagen machte sich der Prophet Elíja auf
und ging nach Sarépta.
Als er an das Stadttor kam,
traf er dort eine Witwe, die Holz auflas.
Er bat sie:
Bring mir in einem Gefäß ein wenig Wasser zum Trinken!
Als sie wegging, um es zu holen,
rief er ihr nach: Bring mir auch einen Bissen Brot mit!
Doch sie sagte: So wahr der Herr, dein Gott, lebt:
Ich habe nichts mehr vorrätig als eine Handvoll Mehl im Topf
und ein wenig Öl im Krug.
Ich lese hier ein paar Stücke Holz auf und gehe dann heim,
um für mich und meinen Sohn etwas zuzubereiten.
Das wollen wir noch essen und dann sterben.
Elíja entgegnete ihr: Fürchte dich nicht!
Geh heim und tu, was du gesagt hast!
Nur mache zuerst für mich ein kleines Gebäck
und bring es zu mir heraus!
Danach kannst du für dich und deinen Sohn etwas zubereiten;
denn so spricht der Herr, der Gott Israels:
Der Mehltopf wird nicht leer werden
und der Ölkrug nicht versiegen
bis zu dem Tag, an dem der Herr wieder Regen auf den Erdboden sendet.
Sie ging
und tat, was Elíja gesagt hatte.
So hatte sie mit ihm und ihrem Haus viele Tage zu essen.
Der Mehltopf wurde nicht leer
und der Ölkrug versiegte nicht,
wie der Herr durch Elíja versprochen hatte.
Die Witwe von Sarepta bei Sidon fasziniert mich. Sie sorgt für den Propheten Elija, obwohl der doch maßgebliche Verantwortung für ihr Schicksal trägt. Zwar liefert sie sich einen kleinen Disput mit dem Propheten aus dem Ausland (sie selber ist ja Phönizierin; was hat sie eigentlich mit diesem Mann zu schaffen?), aber sie macht ihm keinerlei Vorwürfe.
Gründe hätte sie allerdings reichlich. Im Hintergrund steht ja der Konflikt Gottes mit König Ahas. Der Herrscher des Nordreiches, also Israels, hatte Isebel geheiratet, die Tochter Etbaals, des Königs der Sidonier. Sie brachte ihre phönizischen Götter mit, allen voran Baal, den Gott der Fruchtbarkeit. Diese Kulte kamen in Israel gut an: Sie waren so schön sinnlich und lebensnah – ganz anders als JHWH, den darzustellen oder auch nur zu nennen strengstens verboten ist. Der Gott der Bibel wird beiseite geschoben. Nur sein Prophet hält ihn hoch: Elija, was bedeutet: „Mein Gott ist JHWH“!
Die Frage, um die es also geht, lautet: Wer ist (der richtige) Gott?
Elija hat die Macht Gottes auf seiner Seite. Er verschließt den Himmel für mehrere Jahre. Der Regen bleibt aus. Hitze und Dürre liegen über dem ganzen Land. Die Hungersnot drückt alle.
Alle. Nicht nur die Verantwortlichen. Ja, die Armen wohl noch mehr als die Reichen und Herrschenden. So ist das immer...
Ich vermute, dass die Witwe, die am Stadttor von Sarepta Holz sammelt, Elija sofort erkannte. Immerhin stammt er ja aus dem südlichen Nachbarland, wohin eine hiesige Königstochter verheiratet worden war. Von der Krise wird die Witwe gehört haben. Und dass die Ursache der Dürre dem Propheten zugeschrieben wird, der hier vor ihr steht, dürfte sie ebenso gewusst haben.
Ausgerechnet Elija! Als Witwe und Mutter eines Knaben hat sie sehr eingeschränkte Lebensmöglichkeiten – die Dürre, die Not das ganze Land im Würgegriff hat, raubt ihr den letzten Rest Hoffnung. Den letzten Bissen essen, in Würde. Dann sterben...
Ausgerechnet Elija bittet um den Schluck Wasser: Wasser, das er dem Land verwehrt. Und den Bissen Brot, der überall fehlt! Ausgerechnet Elija!
Dass ich teile mit einem, dem es schlechter geht als mir. Klar. Das ist anständig. Aber zu teilen, wenn ich selbst nichts habe? Ja, wenn der Bittende mir sogar noch eine Reihenfolge zumutet: zuerst mir, dann du und dein Sohn? Eine ungeheuerliche Zumutung!
Die Geschichte hat einen Wendepunkt. Ein Scharnier, an dem alles sich neu sortiert. Ort dafür ist sinnigerweise das Stadttor. Hier begegnen sich Prophet und Witwe. Hier berühren sich drinnen & draußen, Verzweiflung & Hoffnung, Vertrauen & Verhärtung. Hier spricht Gott sein: „Fürchte dich nicht!“ (1 Kön 17,13)
Die Witwe traut diesem Wort Gottes. Es ist auch uns vertraut, weil die ganze Heilige Schrift davon gespickt ist. Maria wird dieses Wort hören und den Sprung wagen: Fiat – mir geschehe nach deinem Wort! Josef wird dem Wort trauen und bei Maria bleiben. Die Erlösung braucht Menschen, die nicht ängstlich rechnen; die den Sprung ins Ungewisse wagen, weil Gott gesprochen hat: „Fürchte dich nicht!“
Es könnte hier ein Happy-End sein. Dort der berechnende König Ahab, der sich durch die Fruchtbarkeitskulte des Baal gute Ernten und vielleicht auch beste Beziehungen zu den Nachbarn ausrechnet. Strategisch perfekt! – Dort die Witwe, die nichts zu sagen hat, aber gehorsam ist: Sie hört auf Gottes Stimme und hofft das Unhoffbare. Dem Guten verpflichtet tut sie ihre einfache Arbeit: Holz sammeln, den Schluck Wasser reichen, den Teig bereiten, backen, Gastfreundschaft üben. So bereitet sie ohne Hintergedanken Gottes Heil den Weg. So rettet Gott sie vor dem Tod.
Fürchte dich nicht! Das gibt der Klarheit Gottes weiten Raum!
Jetzt macht unsere Lesung einen Punkt. Wir schielen ja immer auf das Evangelium, und da werden wir nachher der anderen Witwe begegnen, die alles gibt. So, sagt Jesus, wird sie uns zum Vorbild eines Menschen, der alles loslässt, weil Gott allein zählt. Gott schenkt uns alles, was wir brauchen.
Im Ersten Buch der Könige wird die Geschichte jedoch noch auf die Spitze getrieben. Zwar werden Mehltopf und Ölkrug nicht mehr leer. Aber „nach einiger Zeit erkrankte der Knabe“ (1 Kön 17,17) und stirbt. Seine Mutter deutet diesen Tod als Erinnerung ihrer Sünden, die Gott rächt. Also als Strafe Gottes!
Sagen Sie nicht, dass Sie diesen Gedanken nicht kennen! Vielleicht muss gerade ein gläubiger Mensch solche krassen Krisen durchmachen: Wenn alles fraglich wird, jeder Halt wegbröckelt und sogar Gott keinen Halt mehr gibt – wenn wir ihn für unser Unglück sogar verantwortlich machen.
Elija erweckt den Knaben schließlich zum Leben. Aber die Krise konnte er der Mutter (und übrigens auch sich selbst) nicht ersparen. Was haben wir also? Nichts? Nichts! Aber im leer werden, im nichts haben, in der Leere erfahren wir die Fülle Gottes.
Ahas will Götter vor seinen Karren zwingen. Die Witwe dagegen lässt alles los auf das schlichte Wort hin: Fürchte dich nicht! Alles wird ihr genommen. Alles wird ihr neu geschenkt. Unverfügbares wird zum Geschenk. Im Nichts – alles!
Jetzt gleich im Evangelium wird dieser Grundkonflikt: Menschen, die Gott für sich gebrauchen, versus Menschen, die alles weggeben können – und die Gott genau deshalb auch beschenken kann, noch einmal neu erzählt. Im Markus-Evangelium steht das unmittelbar bevor die sogenannte Rede über die Endzeit beginnt; die mündet dann in die Passion Jesu.
Oder anders gesagt: Das heutige Evangelium ist der letzte Erzähltext vor der Passion. Dadurch erhält er aber ein ganz besonderes Gewicht. Bevor Jesus seinen Leidensweg antritt, überliefert der Evangelist Markus diese beiden Erzählungen von den letzten Maßstäben, die für unser Leben gelten sollen.
„Nehmt euch in acht!“, sagt Jesus. Es würde uns nicht wundern, wenn er fortfahren würde: „Nehmt euch in acht vor den Gottlosen, den Bösen, den Betrügern.“ Aber das sagt er nicht. Jesus sagt: „Nehmt euch in acht vor denen, die euch die Schriftauslegen!“ (Mk 12,28)
Dieses Wort muss mich treffen, der ich mich mühe, Gottes Wort auszulegen und vielleicht manchmal zu schnell vereinnahme für meine eigenen Ideen. Aber es gibt nur das Wort „Fürchte dich nicht!“ Werde leer. Und traue dem, der es spricht. Zu dir. Dein Leben. Dein Gott und HERR, der dich von Ewigkeit her liebt. Amen.
Hl. Messe für unsere Verstorbenen mit Texten von Huub Oosterhuis
Predigt: Br. Jeremias Kiesl OSA
Musik: Valeria Galimowa, Gitarre | Eugen Mantu, Violoncello
Sprecher: Nic A. Elß | Br. Pius OSA
Predigt zum Hochfest Allerheiligen am 1.11.2021 in der Brunnenkirche
„Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es.“ (1 Joh 3,1)
Diesen Satz dürfen wir uns heute am Fest Allerheiligen auf der Zunge zergehen lassen. Du magst dich für ein kleines Licht in Sachen Glauben halten; du magst ehrlichen Herzens dir bewusst sein, dass du hinter dem Anspruch Gottes meilenweit zurückbleibst; du magst dir im Klaren sein, dass du vor Gott mit leeren Händen stehst – aber du hast spätestens seit deiner Taufe einen Wert, den dir keine Macht der Welt nehmen kann: Du bist Gottes liebes Kind, Gottes Sohn, Gottes Tochter!
Es ist gut, wenn wir unseren Schwächen ins Auge schauen und wenn wir uns unserer Mängel und Sünden immer wieder bewusst werden. Aber es ist geradezu eine Notwendigkeit, dass wir auch glauben, dass Gott uns nicht als Mängelwesen geschaffen hat. Du wirst nicht Gottes liebes Kind, wenn du dich kräftig anstrengst und seine Gebote erfüllst, wenn du dieses und jenes Großartige vollbringst – nein, du bist und bleibst sein Kind von Anfang an! Noch bevor du dir darüber klar werden konntest, bevor du überhaupt zu denken angefangen hast: Du bist schon sein geliebtes Kind!
„Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es.“ (1 Joh 3,1)
Allerheiligen fordert uns auf, die Welt mit den Augen Gottes zu sehen. Nicht wir können uns verdienen, Kinder Gottes zu werden, sondern Gott hat es uns schon geschenkt. Nicht wir können die Welt und uns selber heil machen, sondern Gott hat uns in die Gemeinschaft der Heiligen berufen; nachher im Credo werden wir uns dazu bekennen. Wir sind nicht schon alle Heilige, aber Gott kann uns alle zu Heiligen machen. Ich glaube, ER will uns wirklich heiligen. „Wir werden ihm ähnlich sein“, heißt es im Johannesbrief, „denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1 Joh 3,2).
Zwar „sind wir alle vor Gott wie Bettler“, so hat es einmal Martin Luther gesagt. Aber wir sind Bettler, die nicht leer ausgehen, sondern die von IHM alles erwarten dürfen, sogar mehr, als die kühnsten Erwartungen. Wir sind alle wie Bettler, die wie der verlorene Sohn sich unversehens in Gottes Umarmung wieder finden, wenn wir uns nur aufmachen zu ihm. Wir können alle Heilige werden, wenn wir uns die Heiligkeit von ihm schenken lassen. „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3).
In diesen Tagen denken wir besonders an unsere Verstorbenen. Nicht alles, was uns an sie erinnert, mag wie helles Licht sein. Die Schatten der Erinnerung sind manchmal nicht zu verscheuchen. Deshalb beten wir, Gott möge sein ewiges Licht für sie leuchten lassen. Dann wird das kleine, aber dennoch so wertvolle Licht, das jeder Mensch in diese Welt gebracht hat, zum großen Licht der Ewigkeit werden, das uns Trost und Ruhe schenkt. Nichts geht bei Gott verloren, alles ist aufgehoben bei ihm. Auch das kleinste Licht, das wir auf ein Grab stellen, wird dann zum Trost für uns.
Wenn der Tod uns schockiert, wenn er uns nach menschlichen Maßstäben völlig sinnlos erscheint, dann gilt doch die Verheißung Gottes: „sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). Wo uns der Trost ausgeht füreinander, da mag Gott uns trösten und die Tränen abwischen, damit wir sein Angesicht erkennen können.
Die Seligpreisungen sind formuliert wie Glückwünsche. Glückwünsche freilich für Situationen, die wir unseren Freunden nicht unbedingt wünschen möchten. Aber sie tragen die Verheißung in sich, dass wir in dem, was uns im Leben an Schwerem widerfährt, Christus, dem HERRN, ähnlich werden können. So wird alles, was das Leben einem Menschen auferlegt oder was er als seine Verantwortung erkennt zum Weg, auf dem Gott sein Heil verschenkt.
Und so können wir unsere eigenen Verstorbenen in der Schar der Heiligen wiederentdecken:
Jedes Leben hat seine eigenen Herausforderungen und seine vielfältigen Möglichkeiten, die Heiligkeit zu leben. Das redliche Mühen von Menschen geht vor Gott nicht verloren. Durch Gottes Geist zeigt sich die Vielfalt der Heiligkeit unter den Menschen. Gott schenkt sein Heil. Er kann uns alle heilig machen. Er ist ja unser lieber Vater, und wir sind seine geliebten Kinder. Amen.