+ Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas (Lk 3, 15–16.21–22)
In jener Zeit war das Volk voll Erwartung
und alle überlegten im Herzen,
ob Johannes nicht vielleicht selbst der Christus sei.
Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort:
Ich taufe euch mit Wasser.
Es kommt aber einer, der stärker ist als ich,
und ich bin es nicht wert, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen.
Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.
Es geschah aber,
dass sich zusammen mit dem ganzen Volk auch Jesus taufen ließ.
Und während er betete, öffnete sich der Himmel
und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab
und eine Stimme aus dem Himmel sprach:
Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.
Ein Licht strahlt heute über uns auf, denn geboren ist uns der HERR. Und man nennt ihn: Starker Gott, Friedensfürst, Vater der kommenden Welt. Seine Herrschaft wird kein Ende haben.
+ Anfang & Ende liegen in des Herren Hände: Er sei mit euch!
Zeit ist ein kostbares Geschenk, ist vielleicht das kostbarste überhaupt, das wir geschenkt bekommen können. Schon am ersten Tag des Jahres reservieren wir eine Stunde unserer Lebenszeit für diesen Gottesdienst, zu dem ich ganz herzlich begrüße. Wir wollen jetzt unseren Gott feiern, IHM danken für die Zeit, die hinter uns liegt, und uns Seinem Segen und Weggeleit anvertrauen für die 365 Tage des Jahres 2022.
Vielleicht sind wir etwas bange: Wir wissen nicht, was dieses Jahr für uns bringen wird. Werden wir die Herausforderungen tapfer bestehen? Werden wir die Stunden des Glücks entdecken und genießen können? Werden die Beziehungen, die uns tragen, Bestand haben? Außerdem: Noch ist die Pandemie nicht beendet. Viele Sorgen um die globale Zukunft sind heute genauso groß wie gestern...
Heute,am 8. Tag nach Weihnachten, sagt die Heilige Schrift, wurde das neugeborene Kind von seinen Eltern zur Beschneidung gebracht und Jesus genannt: JESUS – Gott rettet!
Dieser Name Jesu darf uns begleiten. Es möge kein Tag des neuen Jahres vergehen, an dem wir nicht an ihn denken und seinen Trost erfahren... Ein frohes und gesegnetes Jahr des HERRN 2022 wünsche ich Ihnen allen! – Vertrauen wir uns dem Namen Jesu an, dem HERRN, der rettet:
Die Hirten brachen auf und eilten nach Betlehem: Wie der Engel es ihnen gesagt hatte, fanden sie Maria und Josef und das Kind in der Krippe. Das ist eigentlich nichts besonderes. Es haben damals wohl viele Hirtenfrauen ihre Neugeborenen in Futterkrippen gelegt. Das Besondere wird durch die Verkündigung des Engels deutlich. Aber ein noch größeres Wunder geschieht nun: Die einfachen Hirten werden ihrerseits zu Verkündern der Frohen Botschaft, erzählen, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war!
Bedenken wir, dass die Bibel zwar lobende Worte über Hirten kennt: Mose musste die Schafe seines Schwiegervaters hüten und sich in großer Geduld üben, bis er reif war für die Ehe und letzten Endes für die Führung – die Hirtenführung – des Volkes Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. – Der kleine David wird am Ende doch noch herbeigeholt, von den Schafen weg, die er zu hüten hatte. Ihn wollte Samuel zum König-Hirten Israels salben.
Noch mehr kennt die Heilige Schrift Fluchworte gegen die schlechten Hirten Israels. Sie treffen praktisch alle Könige Israels. Denn sie haben eine ununterbrochene Versagensgeschichte zu verantworten. Bis Gott selbst als Guter Hirte aufsteht, um sein Volk zu weiden: „Der HERR ist mein Hirte ...“ (Ps 23).
Da nun endlich der Gute Hirte auf Erden geboren wird, lässt der Evangelist Lukas die Hirten auf dem Felde vor Bethlehems Toren zu ersten Zeugen der Geburt des Gotteskindes werden. Hirten, die um die Zeitenwende herum wohl genauso viel galten wie Gesindel und Räuber. Sie lebten bei den Tieren – vielleicht nicht umsonst – vor den verschlossenen Toren der Städte. Damit waren sie der Kontrolle der Autoritäten weitgehend entzogen. Wusste man denn, was sie nachts so trieben? Wie konnten sie bei den Tieren vor der Stadt ausharren, wenn sie nicht selber mit dem zwielichtigen Volk auf dem Lande im Bunde standen?
Vor den Toren der Stadt wird der Heiland der Welt geboren. Vor den Toren der Stadt wird er auch gekreuzigt werden.
Er wird leben und sterben an der Seite derer, die draußen sind, sagt uns der Evangelist Lukas. Er sagt es vor allem seiner (heidenchristlichen) Gemeinde, die von manchen Judenchristen vermittelt bekam: Ihr seid die, die eigentlich draußen sind, nicht Teil des auserwählten Volkes, Dahergelaufene eben... Da draußen bei denen aber wird der HERR geboren, gekreuzigt, begraben... Dort wird aber auch das leere Grab sein: Auferstehung zuerst und vor allem für die da draußen!
Sie nun werden zu den ersten Verkündern der Frohen Botschaft. Indem sie ihre Erfahrungen erzählen, weitergeben, was ihnen gesagt wurde, öffnen sie auch den Blick der anderen für das Wunder der Heiligen Nacht: Christus, der Retter, ist geboren!
Maria aber, sagt das Evangelium an mehreren Stellen, „bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen“ (Lk 2,19). Im Angesicht des Geheimnisses, dessen also, was nicht sofort an der Oberfläche sich erschließt, rennt Maria nicht weg oder sagt: „Das ist mir zuhoch!“ Heutzutage wollen Viele nichts von dem wissen, was nicht sofort verstandesmäßig sezierbar ist. Weil es sich der Kontrolle entzieht? Und doch ist das Leben voller Geheimnis, dem man nicht durch große Erklärungen beikommen kann.
Maria jedenfalls bewahrt das Geheimnis. Sie „erwog es in ihrem Herzen“. Im Griechischen Urtext steht an dieser Stelle das Wort „symballein“, was soviel bedeutet wie: hin- und herwenden, zusammenbringen, abwägen. Auch das Wort „Symbol“ kommt von diesem Wort. Das Substantiv „Symbolon“ bedeutet sogar „Glaubensbekenntnis“. Maria lässt also die Dinge in sich wirken. Sie bringt ihre Erfahrungen zusammen und lässt Bezüge – auch zum transzendent Göttlichen – zu. Sie urteilt nicht sofort, aber lässt eins und eins zusammenkommen. Sie kommt zum Glauben und wird Zeugin des Glaubens.
Maria ist immer auch das Urbild der Kirche. Auch die Kirche soll offen bleiben für das Geheimnis. Sie soll es hören und bewahren. Sie darf es nicht zerreden, sondern soll vielmehr ihre Heilserfahrungen abgleichen und so den Glauben nähren. Sie darf erwägen, was ihr geschenkt wird. Und davon, von ihren Erfahrungen, soll sie auch erzählen: mit den schlichten Worten, wie sie den Hirten über die Lippen kamen.
Die Hirten, sagt das Evangelium, kehrten zurück. Der Alltag geht weiter. Und doch sind die Menschen verwandelt. Sie preisen in ihrem Alltag Gott. Denn sie haben IHN erfahren im Kind in der Krippe. Das verändert alles. Vom Christkind wurden alle verändert und können nur in den Lobpreis einstimmen.
Die Weihnachtsoktav liegt nun hinter uns. Der Alltag wird uns bald wieder voll im Griff haben. Das Jahr 2022 – wir gehen nicht nur mit Zuversicht darauf zu. Es wird seine Herausforderungen und Nöte uns zumuten.
Aber hoffentlich tragen wir die Erfahrung im Herzen, dass Gott rettet: Er hat sich uns zugewandt. Er wurde einer von uns. Er hat unsere Armut geteilt, das Los der Menschen. Diese Welt, in der wir leben, kann kein so dunkler Ort sein, wenn Gott hier Mensch werden wollte. Das sollte den Lobpreis auch in uns nie mehr verstummen lassen. Das darf uns mit Hoffnung uns Zuversicht erfüllen – trotz allem. Amen.
Einige von Ihnen kennen von der Festseite des Regleraltars, das Bild vom halbwüchsigen Jesus im Tempel: Der Knabe – eher ein Sechs- als ein Zwölfjähriger – sitzt wie ein Magister auf seinem Lehrstuhl auf einem Tischchen und überragt so die anderen. Die hören mit ihrem ganzen Wesen zu, teilweise mit offenem Mund. Einer mit entsetzt aufgerissenen Augen ist auf die Knie gefallen. Einige sind voller Andacht, anderen ist der Zweifel ins Gesicht geschrieben, manche schauen scheel, alles andere als freundlich drein. Jesus sieht über sie hinweg in die Ferne, vielleicht auch nach innen oder aber doch ganz konzentriert auf einen Gesprächspartner, der nicht zu sehen ist. Am Rand steht Maria still, in anbetender Haltung. Da hat sie schon verstanden, der tiefe Schrecken ist vorbei, und sie bewegt das Erlebte in ihrem Herzen.
Man könnte meinen, die ganze Zuhörerschaft des irdischen Jesus ist hier versammelt: die sich von ihm ansprechen lassen und ihm nachfolgen, die ungläubig bleiben und schließlich die schon Böses sinnen, wie sie ihn mundtot machen können.
Dabei Maria, die aufmerksame Mutter, der so viel Leid und Schmerz widerfahren wird. Gehen wir ein Stück mit ihr: Sie und Josef sind fromme Juden und halten sich streng an die Gebote, die dem Leben Rahmen und Halt geben. Der erstgeborene Sohn wird gemäß der Tradition als Säugling von 40 Tagen im Tempel dem Herrn übergeben. Er gehört Gott, nicht den Eltern. Von klein auf wird das Kind in die jüdische Lebensweise und die Heilsgeschichte Israels eingeführt, treu nach dem Gebot: Und Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst“ (Dtn 6,7). In diesem Geist wird Jesus mitgenommen zu den jüdischen Festen wie jetzt zum Passahfest.
Dann kommt Maria das Kind abhanden. Auf einen Zwölfjährigen muss man ja nicht mehr ständig aufpassen. Erst nach einer Tagesreise mit der Pilgerschar merken es die Eltern.
Der Schrecken ist maßlos. Die maßlosen Schmerzen Marias gehören zur Heilsgeschichte. Schon der Wöchnerin mit dem 40 Tage alten Säugling hatte der Priester Simeon im Tempel prophezeit: durch deine Seele wird ein Schwert dringen – ein „Romphaia", ein großes, breites Schwert. Immer wieder wird dieses Schwert ihr Herz durchbohren, am Ende angesichts der Hinrichtung ihres Sohnes.
Doch jetzt, auf der Pilgerreise, tun die Eltern alles Menschenmögliche, um das Kind zu finden. Schließlich kehren sie nach Jerusalem zurück. Da sitzt ihr Sohn im Tempel, als wäre nichts geschehen. Die Eltern sind entsetzt, außer sich. Der Sohn hat kein Verständnis dafür: „Was soll die Aufregung? Wisst Ihr denn nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Das ist ein eigenartiger Satz, der klarmacht: Jesus gehört nicht nur seinen Eltern, es gibt etwas Anderes, das sein Eigen ist und worauf niemand Zugriff hat. „Ich und mein Vater sind eines“, lesen wir bei Johannes (10,30).
Genau das zeigt das Bild auf dem Regleraltar. Das Kind sitzt erhoben über den anderen, man könnte sagen: Er ist dem Himmel ein Stück näher. Maria steht am Rand, aber sie ist dem Sohn am nächsten. Sie hat schon verstanden und bewegt das Gesehene und Gehörte in ihrem Herzen, wie in der Weihnachtsgeschichte.
Die Szene stellt uns vor Augen: Unser Evangelium erzählt exemplarisch die ganze Heilsgeschichte vom Menschen Jesus, der Gottes Sohn ist. Da spielt gar keine Rolle, ob sie sich nun genau so zugetragen hat oder nicht. Besser kann man gar nicht erzählen, wer Jesus Christus ist.
Deshalb sitzt im Tempel dieses Kind, das an Weisheit und Verständigkeit alle anderen überragt. Es kann zuhören und Fragen stellen – auf eine Weise, dass die Menschen voll Verwunderung einen Zugang zum Geheimnis Gottes erhalten. Als Sohn Gottes ist Jesus ja nicht irgendwann fertig, er wird als Christus geboren.
Und dann ist er doch wieder ganz Mensch. Auch hier als Vorbild für uns alle. Wunderbar plastisch schildert es Martin Luther in einer Predigt (Martin Luther: Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52. Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 5173 (vgl. Luther-W Bd. 8, S. 78 ff.) (c) Vandenhoeck und Ruprecht http://www.digitale-bibliothek.de/band63.htm):
„Nun beschließt Lukas das heutige Evangelium damit, daß er sagt, er sei mit ihnen nach Nazareth hinabgegangen und ihnen untertan gewesen. So wird also dies Kind, das um seines Vaters im Himmel willen sich seiner Mutter entzogen hat, …, jetzt wiederum der Mutter gehorsam und dem Joseph, ob ers wohl nicht schuldig war.…: Er tat es aus freiem Willen, nicht aus Not; denn er war Gott und ein Herr Marias und Josephs. Daß er aber ihnen gehorsam war, das tat er nicht um Vaters und Mutters willen, sondern um des Beispiels willen. Denn dafür soll mans achten, daß das Kind Jesus im Hause alles getan hat, was man ihn geheißen hat: Späne aufgelesen, Wasser, Fleisch und anderes geholt und sich nichts verdrießen lassen. … Werke, deren Vater und Mutter im Hause bedürfen: daß er .., Feuer gemacht, das Haus bewacht und dergleichen mehr getan hat, … wie ein anderes Kind. … Wenn seine Mutter gesagt hat: Sohn, lauf hin und hole mir Wasser, hole Holz, Stroh usw., so ist er hingelaufen und hats geholt.“
Auch im Hinblick auf das vierte Gebot also wird uns der Mensch Jesus als Vorbild hingestellt. Das Gebot sichert nicht zuletzt den Schutz der Alten, wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können. Jesus wird noch am Kreuz seinem Jünger Johannes die Fürsorge für seine Mutter auftragen.
Heute ist das Fest der Heiligen Familie. Ich hab mal nach seinem Ursprung geschaut: Das Fest gibt es seit dem Mittelalter und ist ein sogenanntes „Ideenfest“, das eine Glaubenswahrheit in den Mittelpunkt stellt: die Heilige Familie als Vorbild, das uns stärken soll in unserem Zusammenleben. Doch worin genau besteht das Vorbild? Es entspricht jedenfalls nicht unseren neuzeitlichen Wunschvorstellungen von einer heilen Familie. Die moderne Kleinfamilie gibt es noch keine 300 Jahre. Wir sollten sie nicht in das Nazareth von vor 2000 Jahren projizieren.
Das deutsche Wort „Familie“ stammt von lateinisch „famulus“, „Diener“, und verweist damit eher auf das Gesinde eines Hausstandes. Die Idee eines Hausstandes verbindet sich wiederum mit dem griechischen Oikos für „Haus“, aus dem auch das Wort „Ökonomie“ gebildet ist.Es geht um eine generationenübergreifende Wirtschaftsgemeinschaft, in die Menschen geboren werden und aus der die Alten eines Tages weggehen. Sie bildet das Kontinuum, ein Geflecht aus Rechten und Pflichten, das die Menschen zusammenhält. Bei Hannah Arendt fand ich den schönen Satz: „Familien werden gegründet als Unterkünfte und feste Burgen in einer unwirtlichen, fremdartigen Welt, in die man Verwandtschaft tragen möchte“(Arendt. Denktagebuch, 16).
Sie merken schon: von diesem Familienbild übriggeblieben ist die Familie als kleine Festung gegen die Zumutungen der Welt. Aber von einer durch Verwandtschaft gestifteten Gemeinschaft, die den Einzelnen trägt und nicht umgekehrt von den Individuen einer Kleinfamilie immer wieder mühsam aufrecht erhalten werden muss, kann schon lange keine Rede mehr sein.
So spielt vielleicht mit Blick auf die Familie in Nazareth gar keine Rolle, ob Josef nun der leibliche Vater war, ob Jesus Geschwister hatte und all diese Dinge. Auch die modernen Patchwork-Familien passen in dieses Gemälde, das Luther da vor unseren Augen entstehen lässt: die sogenannte Blutsverwandtschaft steht nicht an erster Stelle, wenn familiäre Gemeinschaften gehegt und gepflegt werden, „als Unterkünfte und feste Burgen in einer unwirtlichen, fremdartigen Welt“.
Doch dabei allein darf es nicht bleiben!
Die Familie wird zum Gefängnis, wenn sie ihre Mitglieder nicht frei lässt. Weise ist deshalb das Gebot, die Kinder schon als Säuglinge in den Tempel zu bringen – heute taufen wir sie: Sie gehören nicht uns, sondern sind uns geliehen, wie jemand beim Bibelgespräch am Dienstag sagte.
Zwei Lebensbereiche stehen in Widerspruch zur Familie:
Der eine ist die Welt mit ihren Zumutungen und Aufgaben: Dort müssen wir uns als Einzelne bewähren und unseren Anteil für das Zusammenleben im Gemeinwesen beitragen. Unsere Gesellschaft ist gerade keine große Familie, sondern muss Pluralität und Freiheit gewährleisten. Da gelten ganz andere Regeln als in einer Familie.
Schließlich die christliche Gemeinde:
Wenn ein Gottesdienst oder eine Gemeindeversammlung zum Familientreffen wird, ist alle Vorsicht geboten. Eine Familie ist eine mehr oder weniger geschlossene Gesellschaft...
Noch einmal Luther:
„Zum andern hat (uns Jesus ) mit dieser Offenbarung auch ein Vorbild geben und uns lehren wollen, dass wir Gott mehr gehorsam sein sollen als den Menschen, ob es schon unsere Eltern selbst sind... Unsere Unwissenheit und große Blindheit, (ist) immer dahin geneigt …, dass sie den Menschen eher als Gott dient. Darum sollen wir aus diesem Exempel unsers lieben Herrn Jesus Christus lernen: Wenn es dahin kommt, dass wir entweder Gott oder den Eltern und der Obrigkeit ungehorsam sein müssen, dass wir mit Christus sprechen: »Ich muss sein in dem, das meines Vaters im Himmel ist«.“
Damit ist uns Freiheit geschenkt. Bitten wir Gott, dass er uns diesem Geist der Freiheit im Zusammenleben in der Familie, in der Welt und in unserer Gemeinde schenkt. Amen.
Erstaunlicheswird von Stephanus berichtet. Als den Aposteln der Leitungsstress in der Jerusalemer Urgemeinde zu groß wird, werden sieben Diakone gewählt. Es sind Männer „von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit“. Sie sollen sich um allerlei Alltagsgeschäft kümmern, Stephanus um die Witwen und Waisen. Stephanus ist jüdischer Herkunft, aber wohl auch griechisch gebildet.
Es ist ein schöner Gedanke, dass Gemeinde einfach daran wächst, dassMenschen die Aufgaben verteilen und tun, die eben nun einmal zu tun sind, bis der Herr kommt. Daraus soll einmal Kirche werden. Das ist die Geschichte, die am Anfang steht. Dann erst kommen Streit und Vermittlung, die nicht ausbleiben können. Mit diesem Gezänk hat dann Paulus zu tun. Später erst kommen Herrschaftsgebaren und Kaiserkirche. Es ist wichtig daran festzuhalten, was zuerst da war. Denn diese Reihenfolge zeigt die Tiefenschichten an, in denen wir uns immer wieder neu verwurzeln können.
In der Apostelgeschichte wird erzählt, wie besagter Stephanus in die interreligiösen Feindseligkeiten zwischen jüdischen und judenchristlichen Gemeinden geriet. Er wird vor das hohe geistliche Gericht in Jerusalem geladen. Das bedeutet in der Regel nichts Gutes. Frage: Hast Du gepredigt, Jesus von Nazareth werde den Tempel niederreißen und ein neues Gesetz aufrichten? Stephanus antwortet wortreich und gelehrt, wie man in Apostelgeschichte 7,2–53 nachlesen kann. Dann erhebt Stephanus den Blick zum Himmel und sieht. Er sagt, was er sieht: „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ (Dan 7,13) Dies wird den Richtern zu viel. Man führt ihn hinaus und steinigt ihn. Seine letzten Worte nach der Überlieferung: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“ Soweit in aller gebotenen Kürze.
Dieser eindrucksvolle Auftritt und das folgende Ende macht Stephanus zum Erzmartyrer, zum Ersten Zeugen. Sowohl in der West- als auch in der Ostkirche ist Stephanus ein gefeierter Heiliger.
Meinen Eltern nun hat es gefallen, mir den Namen dieses Mannes zu geben: Stefan. Was sie sich dabei gedacht haben, kann ich nicht sagen. Sicher scheint mir, dass keine religiösen Beweggründe dahinterstanden. Aber weiß man‘s genau? Gleichwohl, der Namenspatron ist Schicksal. Man wählt ihn nicht. Man wird als Kind auf seinen Namen getauft. Punkt. Also Stephanus.
Aber wann und wo fiel es mir auf, dass hinter meinem Namen dieser prominente Heilige steht: Stephanus? Es mag in einer dieser zahlreichen kretischen byzantinischen Kapellen gewesen sein. Stephanus und immer wieder Stephanus. Irgendwie immer jugendlich, stets ganz nett gekleidet in diesem Diakonengewand. Dieses Glätzchen auf dem Kopf und etwas steif lächelnd sein Weihrauchgefäß haltend.
Was? Das? Mein Heiliger? Augenblicklich kriecht mein Blick und Begehren zu einem dieser beeindruckend heldenhaften Soldatenheiligen hin: Georg, Demetrius, Menas…
Und dann diese Geschichte! Zu Steinen habe ich zwar mein Leben lang ein inniges Verhältnis, aber doch nicht als Todesursache. Nichts für mich.
Im kleinen Ikonenlädchen fällt mein Blick wiederum auf den Namensheiligen. Ach. Dieses Diakonengewändchen, dieser abgeklärte Blick, das seltsame Lächeln und das Weihrauchfässchen. Ich entscheide mich für eine kleine Georgsikone. Es bleibt ein leiser Verdacht, dass bei dieser Wahl etwas nicht stimmt und eine vage Ahnung, dass man mit seinem Namenspatron so nicht umgehen kann. Schlechtes Gewissen kann die Verletzung einer Pflicht anzeigen.
Ach was! Schlechtes Gewissen – einem Heiligen gegenüber? Mein protestantisches Urmisstrauen gegenüber jeglicher heilsvermittelnden Institution, also Kirche mit oder ohne Heiligen-Ökonomie, schaltet sich ein. Nette Bildchen das. Zum Heil vermögen Heilige nichts beizutragen. So mein lutherisches Wissen und Kontergewissen. Die protestantische Gottesnähe will sich am liebsten unvermittelteinstellen: Ich bin Dein und Du bist mein. Da ist kein Platz für Heiligenmätzchen. Das macht es einem mit dem Namensheiligen nicht einfacher. So wäre also Stephanus, der Heilige, am Ende gerade eine Art religiöse Folklore?
Navid Kermani hat seinem schönen Buch über seine Begegnungen mit dem Christentum den Titel „Ungläubiges Staunen“ gegeben. Ungläubiges Staunen. Welche Worte und endlich eine Sprache für mein sprachloses Stehen vor dem Heiligen.
Ungläubig. Staunend. Ich glaube nicht an Heilige, aber ich glaube ihnen. Was glaube ich dem Stephanus? Seine engagierte Rede vor dem Gerichtshof, die längste wörtlich zitierte Rede der Apostelgeschichte? Ja. Ich glaube sie ihm. Mehr noch aber glaube ich seinem Blick in den offenen Himmel.
In einer dem Stephanus geweihten byzantinischen Kapelle ist dieser Blick dargestellt. Die Steine fliegen. Stephanus steht da, als bemerke er sie gar nicht und schaut in den Himmel. Da sind GOTT und CHRISTUS. Mit einem alten Wort: Stephanus scheint ihnen wohl zu gefallen. Die Allerhöchsten lassen sich sehen. Aufgeöffnet hell ist diese Perspektive. Und plötzlich wird der trübe Spiegel, von dem Paulus spricht, klar. Und wir sehen mit den erstaunten Augen des Stephanus von Angesicht zu Angesicht. Das will ich dem Stephanus glauben.
„Fürchtet euch nicht!“ Das hat gestern in der Heiligen Nacht uns und den Hirten der Engel ins Ohr gerufen: „Fürchtet euch nicht! […] ich verkünde euch eine große Freude […] Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der HERR!“ (Lk 2,10f.)
Ja, Vieles ist angesichts des Zustandes dieser Welt zum Fürchten: die Ungerechtigkeit der Schere zwischen Arm und Reich, der Zustand der Wälder und der gesamten Schöpfung, die hohen Zahlen der an Covid-19 Erkrankten, dazu Etliches, was uns ganz persönlich auf der Seele liegen mag... Doch: „Fürchtet euch nicht!“ Gott hat diese Welt niemals verlassen. ER scheint in diese Welt vernarrt und in die Menschen, Seine Geschöpfe, denen ER Leben gab und die ER für das Ewige Leben bestimmt hat.
Große Freude also, trotz allem und im Angesicht dessen, was zum Fürchten ist: „Der Retter ist geboren – Christus, der HERR!“
Darauf hat Gott uns Sein Wort gegeben. Wir sind eingeladen, Gottes Logik mitzugehen – Seinen LOGOS zu erkennen und aufzunehmen. „Im Uranfang war Er, das Wort“(Joh 1,1 – Übersetzung von Fridolin Stier), von dem her alles Sein und Sinn hat.
Noch viel weiter als die Evangelisten Lukas und Matthäus greift Johannes aus, um das Ereignis des Lebens Jesu richtig einzuordnen. Alles bekommt vom Ende her seinen Sinn (Logos), von Ostern her: Der Kreuzestod Jesu ist nicht Scheitern. Er ist vielmehr der Logik Gottes geschuldet, dessen Macht die verströmende Macht der Liebe ist. Noch bevor das im Evangelium erzählt wird, gibt uns Johannes im Prolog eine Art Schlüssel zum Verständnis an die Hand.
Schöpfung und Gnade sind die beiden Seiten der einen Medaille, wie Gott handelt. Der dreifaltig-eine Gott hat alles ins Dasein gerufen, damit der Mensch leben kann. Das Gesetz des Mose sollte dieses Leben zum Gelingen führen.
Der Mensch versagt immer wieder. Er scheint nicht in der Lage, die Gebote und das Gesetz ganz zu erfüllen. Aber Gott gibt nicht auf. Er setzt alles auf die Karte unverdienbarer Gnade: Die Kunde vom Wesen des väterlichen Gottes bringt der Sohn selber zu den Menschen. Der LOGOS wird Fleisch. Als Mensch kommt Gott uns nahe.
„et incarnatus est“ – „... und ist Fleisch geworden“: Gott, der die Liebe IST, hat sich uns Menschen eingefleischt. ER entäußert sich seiner Gottheit, um uns nahe zu kommen, nahe zu sein. Ein Neuanfang ist gemacht, eine neue Schöpfung durch den Schöpfer aller Dinge und Wesen: Neuschöpfung durch Christus.
Eine Metapher zieht sich durch das gesamte Evangelium nach Johannes: Licht und Dunkel stehen gegeneinander. Aber wie Gott im Uranfang das Licht aufscheinen lässt, so kommt sein Sohn nun selbst als Licht in diese Welt: Neuschöpfung in Christus! Wenn er am 8. Tag als Auferstandener seinen Jüngern erscheint, wird ihnen allen klar: Die sieben Tage der Schöpfung sind nun überboten. Am 8. Tag ist Neuschöpfung, das Reich Gottes hat das Reich des Todes abgelöst.
Allerdings hängt ein Schleier der Trauer über dem Johannes-Prolog: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,9-11).
Das muss für die winzig-kleine johanneische Gemeinde eine ungeheure Herausforderung gewesen sein. Sie hatten die Größe des Jesus-Ereignisses erkannt und waren ganz erfüllt davon: Ja, Christus ist das Licht der Welt! Er hat das Dunkel des Todes erhellt!
Aber diese Gemeinde bleibt eine Splittergruppe, eine Minderheit, die im Pomp des Römischen Reiches nicht einmal eine Randnotiz wert ist. Ein Zeichen also, dass wir falsch liegen? So mag sich ein gläubiger Mensch damals gefragt haben. Es wird sich auch heute hier in Thüringen mancher fragen, warum die Botschaft der Erlösung nicht viel mehr Menschen ergreift?
„Das wahre Licht erleuchtet jeden Menschen“ (vgl. Joh 1,9). Ungebrochener Optimismus. Jeden Menschen... Nicht nur einige wenige Auserwählte, nicht nur sein auserwähltes Volk. Vielmehr legt Gott sich in Menschenhände, IHN aufzunehmen! Seine Macht in Menschenhand! Auch das ist „Inkarnation“: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,12). Kinder Gottes – semitisch die Umschreibung für „Volk Gottes“, nicht aufgrund von Abstammung, sondern durch die Annahme im Glauben. „ER gab ihnen Macht, Kinder Gottes zu werden!“
Selbst das Wort des Propheten Jesaja (unsere 1. Lesung) wird hier überboten. Deuterojesaja wurde als Trostbotschaft vor langer Zeit formuliert, und zwar am Tiefpunkt der Geschichte des Volkes Israel, nämlich in der Babylonischen Gefangenschaft: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Heil verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König“ (Jes 52,7).
Jetzt aber geht es nicht mehr um eine Wiederherstellung alter Verhältnisse oder auch des alten Gottesvolkes. Jetzt hat in Christus Gott Sein Heil ausgeweitet: ein Angebot für alle Völker, für jeden Menschen! Dieses Angebot ist und bleibt bis heute aktuell!
Warum verniedlicht diese Welt Weihnachten zum Fest der Gefühle und der guten Düfte? Wann war Weihnachten aktueller als heute? Es geht nicht um ein paar Stunden heile Welt. Wir wissen, dass auch heute Menschen hungern, frieren, an den Grenzen Europas abgewiesen werden, mit dem Leben und mit dem Tod kämpfen...
Doch: „Wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (Joh 1,14), sagt Johannes, der Zeuge. Im Glauben sehen wir Gottes Licht, seine Herrlichkeit, die mitten in der Nacht leuchtet, die den Tod überwindet – trotz allem! Sie muss uns antreiben, heute diese Welt und ihre Menschen zu lieben; heute die Hoffnung für diese Welt tatkräftig zur Geltung zu bringen...
Gott schenkt uns nicht nur ein paar tröstliche Augenblicke mitten in einer dunklen Phase des Jahres. Mitten in der Pandemie ist und bleibt ER der große Lichtblick. „Ich bin da, und ich werde für euch da sein! Fürchtet euch nicht!“ Darauf gibt Gott uns Sein Wort. Durch diesen Logos-Christus erhält alles seinen Sinn und sein Ziel.
„Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens“ (Hebr 1,1-3a). So beginnt der Hebräerbrief. Durch unseren Blick auf Jesus können wir das Wesen des Vaters erkennen: Seine Liebe, in der wir immer bleiben. Amen.