Für mich ist einer der wichtigsten Gedanken überhaupt ein Satz von Augustinus aus dem„Gottesstaat“:
„Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab.“ (Civ., XII,20: Initium ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.“)
Er hat Geschichte gemacht, denn er ist ein Loblied auf die menschliche Freiheit. Für Augustinus ist jeder Mensch ein Anfang – auf lateinisch „initium“, ein „Initiant“, ein Beginner, ein Neuanfänger. Das trifft für mehrere Punkte in unserem Leben zu: Ein erster Anfang ist unsere Geburt. Den bestimmen wir nicht selbst, wir werden ins Leben gerufen. Mit der Geburt eines jeden Menschen kommt etwas Neues in die Welt.
Im Laufe unseres Lebens setzen wir Menschen selbst Anfänge: Durch das, was wir beginnen, durch unser Handeln und wenn wir mit anderen zusammen etwas Neues schaffen. Geschah der erste Anfang ohne unser Zutun, ist dieses Anfangenkönnen der Ausdruck für die menschliche Freiheit: Wir schenken der Welt durch uns und unser Handeln etwas Neues.
Und schließlich ist ein Anfang, was wir heute mit Sophie, Clemens und Vincent feiern: Gott macht mit Euch in der Taufe einen Neuanfang, weil Ihr Euch entschieden habt, Euch Gott anzuvertrauen.
Bei Augustinus begegnet uns dieser wunderbare Gedanke im Zusammenhang mit dem Gleichnis von der Rückkehr des verlorenen Sohnes. Der hatte in der Fremde sein ganzes Hab und Gut vertan und kam nach Haus zu seinem Vater im Vertrauen, dass er ihn wieder bei sich aufnimmt. Der Vater, erfahren wir (in Lukas 15), empfängt ihn voller Liebe mit offenen Armen und befiehlt seinen Knechten: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße.“ (Lk 15,22). Augustinus erinnert dieses wertvollste, schönste Festkleid für den Sohn an das Taufkleid: Ihr Drei seid heute auch festlich gekleidet. Das neue Gewand steht für den Neubeginn in Eurem Leben am heutigen Tag.
Jede und jeder sind wir Beginnerinnen und Beginner. – Diesen Gedanken entdeckte ich zuerst beider Philosophin Hannah Arendt. Sie fand ihn bei Augustinus, er wurde das Fundament ihres Denkens: „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen.“ Sie gründet darin ihre Hoffnung auf den Menschen und ihre Liebe zur Welt: Mit jedem Menschen kommt etwas Niedagewesenes, etwas nicht plan- und Berechenbares in die Welt. Ja, wir finden überhaupt erst unsere Bestimmung, wenn die Welt durch etwas Neues bereichern. Hannah Arendt nennt uns Menschen deshalb nicht als „Sterbliche“ – das bleiben wir natürlich dennoch – sondern „Gebürtliche“.
Anfänge setzen wir, indem wir Versprechen geben und einander verzeihen und damit Erneuerung unserer Beziehungen ermöglichen: Auch das gehört zur Taufe. Ihr drei, Sophie, Clemens und Vincent, werdet mit Euren Patinnen und Paten ein Versprechen geben und Euch Gottes anvertrauen. Zwischen Euch und Gott wird ein Neuanfang gesetzt.
Neuanfänger haben die Möglichkeit, in dieser Welt dauerhaft etwas zu verändern, wenn sie bereit zu Verzeihen und Versprechen sind, denn damit vertreiben sie die Schatten der Vergangenheit und schaffen Zukunft.
Hannah Arendt nennt uns sogar Wundertäter: „Nur wo etwas Neues, Unberechenbares, Unvorhersehbares geschieht, kann es so etwas geben wie 'Glaube und Hoffnung‘“ („Vita activa“, 243).
„Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“: Wir stehen wieder vor einem Neuanfang, wenn wir in drei Tagen in der Brunnenkirche beginnen. Da brauchen wir diese Zuversicht, dass Gott uns zu Anfängern gemacht hat.
Es gibt einen ganz kurzen Satz, der Augustinus zugeschrieben wird, der sehr bekannt ist: Ich will, dass du bist.
Ich habe diesen Satz vor anderthalb Jahren das erste Mal gelesen. Und ich war damals sehr erstaunt, so ein schlichter Satz und so viel.
Ich will, dass du bist. Gott will, dass ich lebe.
Es kann Situationen geben, wo wir so sehr angefochten sind, wo negative Stimmen in uns so laut werden, dass es sehr wichtig sein kann zu hören: Gott will, dass ich existiere.
Gegen alle Anfechtung, gegen alle Selbstzweifel spricht Gott sein großes Ja. Gott möchte, dass ich hier auf der Erde bin, hier einen Platz habe.
Dieser Satz drückt die große Liebe Gottes zu uns aus. Wir sind von Gott geschaffen, von ihm gewollt; jeder hier eine Tochter, ein Sohn Gottes, sein Kind.
Ich habe einmal in einer Tauf-Predigt vor Jahren gehört: Taufe bedeutet, dass Gott ein großes Pluszeichen vor mein Leben stellt, sozusagen ein Kreuz. Ein Pluszeichen vor die Klammer meines Lebens setzt, so dass sich alles, was in ihr Minus sein könnte, in Positives verwandelt. Ich will, dass du bist – das ist für mich das große Pluszeichen, das Gott vor mein Leben schreibt.
Und es bedeutet auch: Ich darf in meiner Individualität sein. So wie ich als Person bin, ist es nicht gleich ein Problem. Ich muss nicht in ständiger Selbstoptimierung bleiben, ich muss mich nicht ständig fragen, wie ich besser sein könnte. Gottes Blick richtet sich nicht zuerst auf unsere Unzulänglichkeiten. Jeder darf seine eigene Lebensmelodie finden und leben. Das Wort finden, das über dem eigenen Leben steht, mich dem annähern, es annehmen. Das kann eine enorme Entlastung von Leistungsdenken und ständigem Vergleichen sein.
Vielleicht kann es auch mein Verhältnis zu meinem Nächsten verändern, auch zu denen, mit denen ich mich schwer tue.
Auch der andere darf in seiner Einzigartigkeit sein.
Vielleicht verändert sich unser Zusammensein, wenn jeder von uns immer tiefer spürt, dass Gott sein großes Ja sagt. Es könnte sein, dass es leichter wird, sich gegenseitig Raum zu geben, weil jeder weiß, dass Gott ihm selber genügend Raum schenkt.
Wir sind Gottes geliebte Kinder. Zu jedem einzelnen sagt Gott: Ich will, dass du bist. Ich darf den liebevollen Blick Gottes auf mich, auf mein Leben spüren und an seinen liebevollen Blick auf das Leben meines Nächsten denken.
3. Impuls von Dr. Fabian Sieber
Zwei Impulse sind gesetzt. Unterschiedliches wurde benannt. Verschiedenes ausgedrückt. Vielfältiges gesagt. Und es ist gut und war schön. Und jetzt soll auch ich noch etwas beitragen? In den Chor einstimmen? Den Vielklang vervollständigen? Eigentlich möchte ich lieber nicht. Ich zögere. Weil ich Angst habe. Angst, dass die Harmonie der Polyphonie in den Missklang der Kakophonie kippt. Angst, dass die Vielstimmigkeit, die Pluralität eben nicht mehr als etwas Bereicherndes und Schönes empfunden wird, sondern als etwas Verstörendes. Eine Last. Denn Pluralität ist nicht immer schön. Wer bei dieser Gelegenheit an das Verhältnis der Regler-Gemeinde und der Augustiner-Gemeinde denken möchte, wie es sich in den letzten Monaten entwickelt hat, mag dies tun. Wer dies nicht möchte, weil das Thema längst erschöpft ist – unterlasse dies.
Unabhängig davon gilt: wenn Pluralität beginnt weh zu tun, dann helfen keine Plattitüden mehr. Ein Satz wie „Menschen sind halt unterschiedlich“ besagt nicht viel. Und eine Aussage wie: „Ich bin ok, Du bist ok“ hilft nicht weiter, wenn Pluralität aufgehört hat, eine Bereicherung zu sein und es einen Konflikt gibt, der das Miteinander vergiftet. Trotzdem stehe ich heute hier. Nicht weil ich es gerne tue oder schön finde, sondern weil ich glaube, dass es manchmal auch nötig ist, Pluralität zu ertragen. Denn: So schwer Pluralität manchmal zu ertragen ist, es gibt keine Alternative.
Dass das so ist, hat schon Paulus umgetrieben, und deshalb schreibt er im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth (1 Kor 9,20-22):
„Da ich also von niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht [...]. Den Juden bin ich ein Jude geworden […] den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser […] den Schwachen wurde ich ein Schwacher.“
Paulus erkennt an, das es Verschiedenheit gibt die nicht verbindet, sondern die die Menschen trennt. Denn Menschen sind unterschiedlich in ihrer religiösen Überzeugung in ihrer ethnischen Herkunft und in ihren individuellen Fähigkeiten. Das ist nicht gut. Das ist nicht schlecht. Das ist, wie es ist. Paulus verschließt vor dieser Realität nicht die Augen, sondern er benennt sie und durchleidet sie – er macht sich zum Sklaven aller. Wie hält Paulus das aus? Nun, er weiß, wofür er es tut. Und deshalb fährt er im Brief an die Korinther fort (1 Kor 9,23) „Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben.“
Das Evangelium ist eine frohe Botschaft – und sie ist schon da, deshalb kann Paulus darüber sprechen. Die frohe Botschaft beinhaltet dann aber auch eine Verheißung. Diese hat sich noch nicht erfüllt, aber sie ist zugesagt. Sie ist ein Versprechen. Eine Hoffnung darauf, dass die Gegensätze durch die die Menschen getrennt werden, nicht das letzte Wort behalten werden. Paulus schreibt im Brief an die Gemeinde in Galatien (Gal 3,26-27):
„Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.“
Getauft sind wir. Schon jetzt. Das Taufkleid haben wir angelegt. Schon jetzt. Und wir sind Söhne und Töchter Gottes. Schon jetzt. Und wir sind es auch dann noch, wenn wir es manchmal im Alltag vergessen sollten.
Und trotzdem sind wir noch immer Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen. Und wir sind evangelische und katholische Christen. Und wir bleiben es, in aller bereichernder und belastender Vielfältigkeit. Eins in Christus – das sind wir schon jetzt und wir sind es noch lange nicht. Der Zusammenfall der Gegensätze, die sogenannte coincidentia oppositorum von der Nikolaus von Kues gesprochen hat, oder auch die Verbindung der Gegensätze, die sogenannte complexio oppositorum von der Carl Schmitt gesprochen hat, sie ist uns als eine Möglichkeit versprochen. Sie zu erreichen steht nicht allein in unserer Macht, aber sie ist eine Möglichkeit. Wenn das geschieht, dann und erst dann ist es möglich, so unterschiedliche Denker wie Nikolaus von Kues und Carl Schmitt ernsthaft miteinander zu vergleichen. Dann aber werden auch andere Gegensätze nicht mehr gelten. Und dann sind da nicht mehr Himmel und Erde unverbunden nebeneinander, sondern der Himmel ist – zumindest ein Stückchen auf Erden und die Erde ist eine neue Schöpfung. Dann stehen sich nicht länger Gott und Mensch gegenüber, sondern Gott wird Mensch und die Menschen werden Kinder Gottes. Dann ist da nicht Leben und Tod. Und mit dem Tod ist alles aus. Sondern das Leben in Fülle geht durch den Tod hindurch.
Soweit so gut, aber was hat das mit Augustinus zu tun? Das ist ganz banal. Im Augustinus-Lesekreis beschäftigen wir uns seit vielen Jahren mit den Confessiones, den Bekenntnissen des Augustinus. Dort heißt ganz am Anfang, im 1. Kapitel des 1. Buches: „ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir". Dieser Halbsatz verbindet Augustinus mit Paulus. Denn eins in Christus, bzw. Ruhe im Herzen, das ist eine Verheißung die uns gegeben wurde und es ist eine frohe Botschaft. Aber manchmal, da ist das Herz noch sehr in Unruhe. Die Pluralität menschlicher Existenz ist eine Realität, die uns nicht zur Ruhe finden lässt. Das ist dann aber etwas, das nicht nur Paulus mit Augustinus verbindet, sondern das weiter wirkt bis in unsere Zeit.
Allein, das ist kein Grund um zu verzweifeln. Denn wir sind Getaufte in Christus. Schon jetzt. Und wir dürfen Gott loben und preisen. Schon jetzt. Denn wir haben allen Grund dazu – schon jetzt – denn mit Paulus tun wir es nicht als Selbstzweck, sondern um des Evangeliums willen und um an seiner Verheißung teilzuhaben.
Sind Frauen die besseren Menschen? – Schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich nicht. Aber die Männer erst recht nicht, würden manche heute sagen.
Nach anfänglichen Ansätzen einer Frauenbefreiung in der Spätantike, wurden die Minderwertigkeit und die Gehorsamspflicht der Frau immer wieder von vielen Seiten untermauert. Im Neuen Testament haben Frauen ihren festen Platz, wenn auch meist aus der Sicht der Männer beschrieben. Aber ein wichtiger Teil der Jesus-Bewegung waren Frauen.
Der Evangelist Lukas hatdas beobachtet und gestaltet sein Evangelium so, dass in vielen Kapiteln neben Männergestalten ganz selbstverständlich Frauen dargestellt werden. Es beginnt in Lukas 1 mit der Ankündigung der Geburt des Erlösers. Maria brachte Jesus zur Welt – und Monika von Thagaste gebar Augustinus.
Ich aber denke an eine andere Gebärende: an die biblische Eva, „die Mutter aller Lebenden“. Eva – eine wissensdurstige Frau, die Verbote hinterfragt und Grenzen überschreitet. Für mich will sich Eva weiterentwickeln, zwischen gut und böse unterscheiden. Für ihren Verstoß – oder soll ich sagen für ihre Neugierde? – bezahlt sie mit mühevollen, schmerzhaften Geburten. Schwere Geburten gehören somit zum Mensch-Werden, zum Menschen an sich. Ohne sie könnte der Mensch nicht Mensch sein.
Ich finde Gottes Wort von den Mühen und Schmerzen der Geburt erschütternd, weil Schwangerschaft und Geburt mit menschlich-weiblicher Schuld und Bestrafung in Zusammenhang gebracht werden, weil Schmerzen und Leiden von Frauen in Gottes Willen gerückt werden und wie ein Fluch erscheinen. Die Mühen und Schmerzen bleiben nicht auf Eva beschränkt. Von Generation zu Generation wird weitergegeben, was Gott zu Eva gesprochen hat: Es gilt allen ihren Töchtern, euch und mir.
Ich schaue auf meine drei eigenen Schwangerschaften und Entbindungen zurück. Freude waren da, Glück und Dankbarkeit, aber auch große Sorgen, Mühen und Schmerzen. Verglichen mit der Not anderer Frauen, die in der heutigen Zeit nicht die Möglichkeit haben, eine ärztliche Rundum-Versorgung in Anspruch zu nehmen, ist damals meine Not eher klein gewesen.
Aber ich habe sie auch erlebt, die Not und Mühsal einer Geburt, die körperlichen Beschwerden, die Sorgen, weil eine Untersuchung nicht so ausfiel, wie man sie sich vielleicht gewünscht hätte...
Und dann diese Schmerzen, die Erschöpfung, die Hilflosigkeit in den ersten Wochen und Monaten mit einem Neugeborenen... Einsamkeit in den Nächten, ein weinendes Baby auf dem Arm, das zu trösten mir einfach nicht gelingen will... Das werdet ihr vielleicht auch kennen.
Auch bei uns sind die Mühen und Schmerzen der Geburt vielfältig. Da ist die Not, der Schmerz der Mütter, deren Kinder zu früh oder sogar tot zur Welt gekommen sind; die Frauen, die ungewollt schwanger wurden; die Verletzung von Frauen, die durch Gewalt schwanger wurden; aber auch die Sehnsucht der Frauen nach einer Schwangerschaft und Geburt, die unerfüllt bleibt...
Also Eva, woher nahmst du die Kraft?!
Gebären unter Mühen – ist das nun ein Fluch oder doch Verheißung?
Evas Geschichte zeigt mir: Sie ist keine Gescheiterte, Bestrafte oder gar Verfluchte. Durch Eva wurden wir Frauen die Mütter von heute: Eva wurde Gottes Mitschöpferin!
Wir Mütter sind also Gottes Mitschöpferinnen – welch kraftvoller Auftrag!
Und zur heiligen Monika fällt mir nur ein Satz ein: Monika beschirmt uns Frauen und Mütter und wird zur Seelenrettung der Kinder.
Einleitung
Was ist der Mensch? Mit dieser Frage haben wir uns beschäftigt im Zusammenhang mit dem Fest Mariä Himmelfahrt, das wir heute feiern. Wir, das sind Hieronymus, Jeremias und ich (Gisela Frank) sowie (im Hintergrund Marie-Luise) und last but not least Sabine Lindner mit der Musik, in der sie mit verschiedensten Marienliedern aus verschiedenen Epochen ganz viele Akzente auf einer anderen Ebene beitragen wird. Wir laden Sie und Euch dazu ein, Euch mit uns dem Festgeheimnis zu nähern, das im ersten Moment vielleicht etwas antiquiert daherkommt, mit der Tradition der Kräuterbüschel, um die sich in meiner Erinnerung immer die alten Frauen gekümmert haben und das mit heute nicht mehr viel zu tun hat. Dabei ist es das jüngste Dogma in der katholischen Kirche, das erst 1950 offiziell formuliert wurde, obwohl das Fest schon seit 450 n. Chr. gefeiert wird und es unzählige Darstellungen in der Kunst dazu gibt. Aber im 20. Jahrhundert drohte das Wissen, das dahinter steht, abhanden zu kommen, ja es wurde mit Füßen getreten!
In den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts ging es ja darum, alle Schwachheit und alle Individualität auszumerzen: "Du bist nichts, Dein Volk ist alles", "lebensunwertes Leben" sind einige Schlagworte aus dieser Zeit. Es kam nicht darauf an, den Einzelnen in ihrem jeweiligen Gewordensein gerecht zu werden, sondern dass sie eine anonyme Funktion für die Gesellschaft erfüllten.
Das Hochfest Mariä Aufnahme in den Himmel feiert dagegen die Einzigartigkeit jedes Menschen, beispielhaft dargestellt an Maria als Mutter aller Glaubenden, die mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wird. Mit dem Leib, also mit allen Spuren unserer irdischen Existenz. Nicht nur die Seele, unsere hehren Ideale und Sehnsüchte, wie wir gerne wären, wird von Gott verherrlicht, sondern auch der Leib, der durch die Auseinandersetzung mit der Welt beeinflusst wird. Unsere Gebrechlichkeit, hat in seinem einmaligen Gewordensein die Würde, in das Geheimnis Gottes mit aufgenommen zu werden.
Impuls von Gisela Frank
Was ist der Mensch? Diese Frage haben wir jetzt schon von mehreren Seiten betrachtet. In meiner Arbeit habe ich ganz oft mit Menschen zu tun, die im Laufe ihres Lebens von Ängsten geplagt sind, Depressionen erleiden, eine Abhängigkeit entwickelt haben, im Miteinander nicht klar kommen und sich gegenseitig das Leben schwer machen. Lohnt es sich, diese Art von Gewordensein genauer zu betrachten, gar wertzuschätzen? Haben die totalitären Regime nicht recht, die das ausmerzen wollen, damit wenigstens das Volk, die Gesellschaft als überlegene Größe einen Nutzen davon hat?
Aber wenn ich dann beginne, mit den Menschen anzuschauen, was sie ausmacht, was sie erlebt haben, aus welcher Familie sie stammen, welche Vorfahren hier noch eine Rolle spielen, dass sie so geworden sind, wie sie heute sind, bin ich regelmäßig geflashed von dem Reichtum und der Einzigartigkeit jedes Menschen. Selbst Geschwister haben durch den unterschiedlichen Platz in der Geschwisterreihenfolge eine völlig verschiedene Kindheit erlebt. Manchmal sehr schöne Erlebnisse, aber natürlich ist da auch viel Leid, Versagen und Schwäche.
Aber wenn dieses So-sein angenommen und gewürdigt wird, kann es sich verwandeln, und genau aus den schmerzlichsten Erlebnissen können Stärken werden - wenn sie nicht unterdrückt und negiert, sondern angesehen werden, so wie sie sind. "Was ist, darf sein, und was sein darf, kann sich ändern" - diesen Grundsatz aus der Gestalttherapie darf ich in meiner Arbeit immer wieder erleben - ein totales Geschenk! Und es funktioniert eben nicht anders herum, im sich Ausstrecken nach dem "Übermenschen", dem Ideal, dem Ausmerzen der Schwächen - je mehr sie weggedrückt werden, umso hartnäckiger kommen Sie immer wieder zum Vorschein, drängen sich in unser Bewusstsein...
Und das wollte meines Erachtens das Dogma der leiblichen Aufnahme wieder in den Mittelpunkt stellen: Wie Maria gesagt hat: "Siehe ich bin", "mir geschehe nach Deinem Wort", "auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut" und nicht: "Warte, ich muss erst noch das und das erreichen, so hoch kommen, dann bin ich würdig, dann habe ich es geschafft!" Jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit wird von Gott wert erachtet, in das Himmelreich aufgenommen zu werden. Und jeder spiegelt eine besondere Facette von Gottes Reichtum wieder, die sonst fehlen würde. Papst Franziskus verwendet das Bild vom Diamant, bei dem jede einzelne Kante eine Brechung des Lichts beiträgt, durch die er schließlich in seiner Fülle funkelt und strahlt. Jede einzelne Kante trägt etwas zur Schönheit des Diamanten bei. Und nicht, indem sie sich selbst zurechtschleift, sondern im Vertrauen darauf, dass das Leben sie perfekt schleift, mit allen Spuren der menschlichen Existenz, mit allem, was uns zugemutet wird. Wenn wir uns ganz darauf einlassen, es ganz auf uns wirken lassen.
Ohne uns Menschen willGott nicht sein! Deshalb liebe ich das Bild von der Krönung Mariens,von der es in Erfurt eine Menge Darstellungen gibt, eine hier bei unsin der Reglerkirche: Gott will nicht in seiner Dreifaltigkeit untersich bleiben, sondern er will den Menschen als vierten Part in seiner Mitte! Daher können wir getrost sein!
1 Wehe den Hirten, die die Herde meiner Weide umkommen lassen und zerstreuen!, spricht der HERR. 2 Darum, so spricht der HERR, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Herde zerstreut und verstoßen und nicht nach ihr gesehen. Siehe, ich will euch heimsuchen um eures bösen Tuns willen, spricht der HERR. 3 Und ich will die Übriggebliebenen meiner Herde sammeln aus allen Ländern, wohin ich sie verstoßen habe, und will sie wiederbringen zu ihren Weideplätzen, dass sie fruchtbar sein sollen und sich mehren. 4 Und ich will Hirten über sie setzen, die sie weiden sollen, dass sie sich nicht mehr fürchten noch erschrecken noch heimgesucht werden, spricht der HERR. 5 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. 6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«.
vor einigen Jahren erlebte ich im Februar auf Kreta einen heftigen Wintereinbruch. Bei einer meiner Wanderungen entdeckte ich am Wegesrand 25 erfrorene Schafe, vom Hirten säuberlich aufgereiht. Sehr bald hörte ich im Dorf, der Herdenbesitzer plane Schadenersatz bei der Europäischen Union einzureichen, von der er ja auch die Subventionen für seine große Herde erhalten hatte. Nun, die Schafe lagen zwei Monate später immer noch am Weg. Kopfschüttelnd wurde im Dorf über das Enfant terrible der eigenen Zunft gesprochen, man wisse doch, wenn es oben in den Bergen friert, müssen die Tiere herunter an die Küste gebracht werden. Aber ich hörte im Dorf auch andere Geschichten von Schafzüchtern, für die ihr Hirten-Beruf zur reinen Geldmaschine geworden ist. Wo es unkontrolliert Pauschalbeträge für jedes Schaf gibt, wächst die Herde um ein Vielfaches mehr, als es die karge Gebirgslandschaft verträgt. Gemästet werden deshalb die Schafe schon seit Jahren nicht mit einheimischem Gras, das längst der Überweidung und daraus folgenden Bodenerosion zu Opfer fiel – sondern mit ebenfalls EU-subventioniertem Gen-Mais aus den USA. Auch konnte ich von meiner Behausung im Bergdorf aus die ökologischen Folgen der Erosion beobachten: der häufige Starkregen bewirkt unkontrollierte Sturzfluten, die wachsenden Schlammmassen fließen 800 Höhenmeter herab ins Meer und bilden dort unten eine riesige braune Wasseroberfläche, die erst nach Tagen wieder ihr ursprüngliches Türkisblau zeigt.
Ich habe auf Wanderungen und Reisen auch andere Hirten erlebt, gute und schlechte Hirten eben. Wesentlich scheint mir, ob sie kurzfristig Geld mit Schafen machen wollen oder ob sie ihre Verantwortung erkennen für ihre Herden und die Landschaft, die vielen Menschen und Lebewesen Heimat ist und der sie ihr Auskommen verdanken; ob sie sich in ihrem Handeln von Selbstsucht oder von Sorge für ihre Mitwelt leiten lassen.
Die Bibel ist voll von Hirtengeschichten. Jeder verstand sie, denn die Israeliten waren ein Nomadenvolk. Und so redet denn auch Gott aus dem Munde seiner Propheten von guten und schlechten Hirten, wie hier in Ezechiel 34, 2-6:
„Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind über das ganze Land zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln. Niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht."
Solche Klageworte richteten sich gegen die Oberhirten des Volkes Israel. Der Inbegriff eines schlechten Hirten war Zedekia, der letzte König von Juda, den der Prophet Jeremia vergeblich davon abzubringen versuchte, das Schicksal Israels seinen eigenen Interessen und Machtambitionen zu opfern. Die Geschichte der beiden liest sich wie ein Roman über einen beratungsresistenten Diktator und seinen letzten am Leben gebliebenen Berater, der seinem Berufsethos die Treue hält. Immer wenn es brennt, schmeichelt sich der Diktator bei ihm ein, um ihn sofort wieder fallen zu lassen, wenn er seine Dienste für überflüssig hält.
Zedekia war vom babylonischen Königs Nebukadnezar als Vasall im eroberten Jerusalem eingesetzt, die oberen Zehntausend ins Exil verschleppt worden. Zedekia hielt niemandem als sich selbst die Treue. Schon bald verriet er seinen Gönner und zettelte im Bündnis mit anderen Vasallen einen Aufstand an. Für seinen Sieg ließ er Jeremia bitten, bei Gott ein gutes Wort einzulegen. Doch die Antwort ist unsere heutige Prophetenrede: „Siehe, ich will euch heimsuchen um eures bösen Tuns willen, spricht der HERR“ (Jer 23). Gott richtet Droh- und Gerichtsworte gegen Israel und Zedekia und verkündet sehr viel später eintretendes Heil: Statt des treulosen Königs wird ein Gerechter Nachkomme Davids Recht und Gerechtigkeit üben und im Auftrag Gottes die verirrten Schafe wieder einsammeln.
Zedekias Aufstand scheitert. Wenig später riskiert er einen zweiten Aufstand, als sich der ägyptische Pharao zum Feldzug gegen die Babylonier anschickt. Doch der Pharao stirbt und die Babylonier belagern Restjerusalem. Jetzt sucht Zedekia beim Propheten Jeremia die Schuld dafür und verhaftet ihn. Vom Gefängnis aus prophezeit Jeremia weiter Unheil und preist Nebukadnezar als „Knecht Gottes“. Auch verurteilt er die von Zedekia geduldete Versklavung von Menschen, die zwischenzeitlich auf freien Fuß gesetzt waren.
Wieder bittet Zedekia den Propheten, sich bei Gott für ihn und für einen Sieg zu verwenden, befragt ihn sogar heimlich nach seiner Zukunft. Gleich danach schaut er zu, als die obersten Beamten Jeremia in eine Zisterne werfen, wo er verhungern und verdursten soll, lässt ihn aber schließlich befreien. Ein letztes Mal schleicht er sich zum Propheten und befragt ihn nach seiner Zukunft. Jeremia verkündet: Wenn er vor Nebukadnezar kapituliert, wird dieser ihn und das Volk verschonen. Doch Zedekia ändert nicht seinen Sinn, sei es aus Starrsinn, Verkennung der Situation oder aus Feigheit seinen Obersten gegenüber. Wir wissen nicht, ob er aus eigenem Antrieb handelte oder die Marionette von Drahtziehern im Hintergrund war. Auf jeden Fall war er ein schlechter Hirte seines Volkes. Die zweite Niederlage wird die Katastrophe, Jerusalem wird dem Erdboden gleichgemacht. Was mit seinen Bewohnern geschah, erzählen uns die Klagelieder. Zedekia verschleppt man geblendet in Ketten nach Babylon.
Diese Geschichte habe ich so ausführlich erzählt, weil mir viele aktuelle Parallelen dazu einfielen.
Hören wir jetzt nach soviel Gerichts- und Unheilrede die guten Trostworte Gottes aus dem Mund des Jeremia:
„Und ich will die Übriggebliebenen meiner Herde sammeln aus allen Ländern, wohin ich sie verstoßen habe, und will sie wiederbringen zu ihren Weideplätzen. Und ich will Hirten über sie setzen, die sie weiden sollen, dass sie sich nicht mehr fürchten noch erschrecken noch heimgesucht werden. Siehe, es kommt die Zeit, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«."
Wir haben hier ein Spiel mit dem Wort „Gerechtigkeit“: Zedaka.
„Gott ist unsere Gerechtigkeit“: Für hebräische Leser und Hörerinnen schwingt in diesem Namen eine bitterböse Spitze gegen den damaligen König mit. Der Name Zedekia bedeutet übersetzt „Gott ist meine Gerechtigkeit“. Er hatte die Gerechtigkeit für sich gepachtet, war einer, der immer nur das Seine suchte, ein Wendehals, für den es dann gerecht zuging, wenn der Vorteil auf seiner Seite lag. Er war ein Hirte, der Unfrieden und Zwietracht säte: Unfrieden zerstört Gemeinschaft, vereinzelt die Menschen, zerstreut die Schafe.
„Meine Gerechtigkeit“ heißen Menschen, die in der Not nur fragen, wo ihnen geholfen wird, und sich um die Not der anderen nicht scheren. Doch Gott will „Meine Gerechtigkeit“ ersetzen durch einen neuen König mit dem Namen: „Gott ist unsere Gerechtigkeit“. Mit dem neuen König siegt Gottes Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die allen gilt und niemandem gehört. „Rechtströme wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ heißt es beim Propheten Amos.
Die Menschen der Bibel verbanden Gerechtigkeit mit konkreten Lebensumständen, aber nicht im Sinne heutiger Rechtsprechung. „Gerechtigkeit“ umfasst alle Beziehungen, zwischen Gott und Mensch, Gott und Volk, Menschen untereinander und mit der ganzen Welt. Wo „unsere Gerechtigkeit“ regiert, ist das messianische Friedensreich angebrochen.
Ich habe in letzter Zeit viel von der Philosophin und Mystikerin Simone Weil gelernt. Gerechtigkeit ist das Wort, das über der gottgewollten Gemeinschaft aller Geschöpfe steht. Wo es ungerecht zugeht, da sind Menschen entwurzelt und vereinzelt, wie eine Herde ohne Hirten. Simone Weil erkennt diese Entwurzelung in unserer Zeit überall, wo Menschen im Streben nach Gewinn und Eigennutz nur als Mittel zum Zweck missbraucht werden.
Das einzige Mittel gegen diese Entwurzelung ist eine gute Ordnung, in der die Bedürfnisse der Seelen Vorrang haben und wo Menschen ihrer wichtigsten Pflicht nachkommen können: Einem Menschen, der Hunger leidet, zu essen zu geben, sofern es ihm möglich ist. Aber nicht nur der Körper, auch die Seele will ernährt, ihr „Hunger“ nach Ordnung, Freiheit und Verantwortung gestillt werden. Unsere Aufgabe auf der Erde ist, meint Simone Weil, dafür zu sorgen, dass Menschen nicht hungern müssen an Leib und Seele. Das geht nur in der Liebe, der gleichen Liebe, die uns in Gottes Gerechtigkeit begegnet. „Die Liebe ist der Blick der Seele“.1 Dieser liebevolle Blick einer durch Gott erleuchteten Seele prägt ihre Sicht auf die Menschen.
Das ist für mich der Unterschied zwischen „Meiner Gerechtigkeit“ und „Unserer Gerechtigkeit“: „Meine Gerechtigkeit“ ist das kalte Recht, das jedes Regelwerk danach durchkämmt, wo es einem selbst Vorteile bringt. „Unsere Gerechtigkeit“ ist vom liebenden Blick auf den anderen geleitet und sucht, was ihnen nottut. Menschen mit liebendem Blick warten auf die Schwachen, verbinden die Verwundeten und suchen das Verlorene. Bitten wir Gott darum, dass er seine Gerechtigkeit durch uns strömen lässt. Amen.
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